Die Moral unserer Zeit ist sensibel für Schmerzen

Die Moralvorstellungen haben sich verändert. Alexander Somek stellt fest: „Das betrifft nicht nur ihren Inhalt, sondern auch das Gehabe, die Art also, wie sie auftreten. Mehr als je zuvor ist die Moral unserer Zeit sensibel für das Auftreten von Verletzungen und Schmerzen.“ Das geht so weit, dass allem, was verletzbar und leidensfähig gilt, moralischer Status zugeschrieben wird, selbst wenn es nicht menschlich ist. Tiere haben unterdessen ihren festen Platz in der Moral bekommen. Was zwischenmenschliche Beziehungen angeht, hat die Moral ein Gespür für Formen des Leidens entwickelt, die auf symbolischer Distanzierung und mehr oder weniger subtiler Herabsetzung beruhen. Rassistische Sprüche, sexistische Bilder oder verächtliche Gesten werden zur Zielscheibe von Kritik und Ächtung. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

Die Moral tritt heutzutage anders auf

Die Aufmerksamkeit versteht sich aus dem Bestreben, eine Gesellschaft zu schaffen, in der sich alle wohlfühlen. Das gilt unabhängig davon, mit welcher ihre Identität bestimmenden Eigenschaft sie in die Gesellschaft eintreten. Zumindest lässt sich diese Entwicklung für die Moral jener gebildeten Schichten feststellen, die gesellschaftlich den „moral high ground“ okkupieren. Deren Moral koexistiert mit moralischen Subkulturen, in denen die Welt immer noch eine Männerwelt gilt, die Schwarzen bloß Probleme machen und Ausländer im Ausland bleiben sollten.

Alexander Somek betont: „Doch der Wandel unserer Moralvorstellungen geht über ihren Inhalt hinaus. Er betrifft auch ihr Auftreten. Die Art, wie sich die Moral implizit selbst versteht und präsentiert, hat sich verändert.“ Sie kennt ihre eigene Metaethik, also eine Sicht auf das, was Moral bedeutet und was, wenn überhaupt, ein moralisches Urteil zu wissen beansprucht. Diese metaethische Selbstansicht der Moral tritt im Kontext ihrer gesteigerten Sensibilität für Formen der Diskriminierung, Herabsetzung und Beleidigung hervor.

Die Philosophie fragt nach objektiv gültigen Moralprinzipien

In den sechziger oder siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts was das Wichtigste an der Moral die Frage nach ihrer kognitiven Dimension. Das bedeutet nicht, dass in der gesellschaftlichen Erfahrung ihr Wahrheitsanspruch im Vordergrund gestanden wäre. In gewisser Weise war das Gegenteil der Fall. Vor vierzig oder fünfzig Jahren verstanden sich viele als Relativisten oder gar als Skeptiker. Einen moralischen Geltungsanspruch zu erheben war wie von selbst von einem Dementi begleitet.

Man beeilte sich damals hinzuzufügen, dass man es ja bloß „subjektiv“ so sehe. Umgekehrt diskutierte man in der Philosophie die Frage, ob es so etwas wie objektiv gültige Moralprinzipien geben könne. Alexander Somek weiß: „Die Frage wurde kontrovers beurteilt. Jedenfalls waren aus metaethischer Sicht dies die Fragen, die an die Moral zu stellen waren: Ist sie „relativ“, ist sie „subjektiv“ oder ist sie das nicht?“ Die Moral unserer Zeit ist davon auffällig verschieden. Quelle: „Moral als Bosheit“ von Alexander Somek

Von Hans Klumbies