Menschen denken nicht nur in rationalen Kategorien

Das Verständnis der Motive, der Abläufe des Denkens und Kriterien von Entscheidungen der Mitmenschen ist eine Voraussetzung, um mit ihnen umgehen zu können. Die meisten Menschen wollen wissen, wie der andere tickt, und entwickeln eine Theorie of Mind. Allan Guggenbühl stellt fest: „Verbreitet ist die Vorstellung, dass wir letztlich rationale Wesen sind, unsere Interessen verwirklichen und uns selbst erhalten wollen und demnach auch unsere Mitmenschen denken und handeln.“ Das Bewusstsein des Menschen ist jedoch nur eine Insel im Meer vor irrationalen Motiven, Emotionen und Gedanken. Menschen denken nicht nur in rationalen Kategorien, sondern lassen sich von selbstdestruktiven Tendenzen, fantastischen Bildern und bizarren Theorien leiten. Allan Guggenbühl ist seit 2002 Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich tätig. Außerdem fungiert er als Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich.

Übereinstimmung muss nicht zu einer guten Lösung führen

Wenn man seine Mitmenschen verstehen will, muss man auch ihre Verrücktheiten in Betracht ziehen. Klugheit bedeutet, die irrationalen Motive des Menschen zu erkennen. Gemeinsames Handeln setzt Konsens voraus. Ein gemeinsamer Fokus ist eine wichtige Voraussetzung, damit ein Team, eine Organisation oder Institution ein Problem lösen oder ein Projekt anpacken kann. Um als Gruppe möglichst effektiv zu handeln, muss das gemeinsame Vorgehen koordiniert werden. Bevor man sich auf ein gemeinsames Ziel einigt, braucht es jedoch eine Phase des wertfreien Denkens.

Mögliche Zielsetzungen sollten radikal hinterfragt werden können. Es gilt, sich Raum und Zeit zu geben auch für unangebrachte Fantasien, komische Gefühle und vor allem konträre Gedanken. Oft hilft das Denken in Gegensätzen, um andere Optionen zu erkennen. Allan Guggenbühl erklärt: „Wenn wir uns auf eine Sache oder eine Lösung zu sehr konzentrieren, droht sich unser Denkhorizont einzuschränken. Übereinstimmung heißt nicht, dass man auf dem richtigen Weg ist, sondern vielleicht hat man sich auch nur einem Leitbild angeschlossen und andere Perspektiven ausgeblendet.“

Kluge Menschen nehmen gerne einmal eine andere Perspektive ein

Gesellschaften produzieren nicht nur materiellen, sondern auch geistigen Schrott. In Klatschspalten, Reportagen, Unterhaltungssendungen und Talkshows vernimmt man jeden Tag oberflächliche Geschichten. Meinst rümpft dann die Nase und distanziert sich vornehm. Man empfindet die Nachrichten über Skandale der Stars, Fehltritte von Promis, bizarre Unfälle oder Sendungen voller peinlicher Auftritte als Schrott und konsumiert sie dennoch. Doch solche Nachrichten und Unterhaltungssendungen sind laut Allan Guggenbühl wichtig, weil sie einen Blick in den seelischen Untergrund erlauben.

Geistiger Schrott gibt Hinweise auf eigene Schattenmotive und Eitelkeiten. Der Kluge blättert auch von Zeit zu Zeit in Boulevardblättern, schaut sich die schlimmsten Schrottfilme im Fernsehen an und studiert Klatschnachrichten. Es gibt keine klugen Menschen, sondern nur solche, die offen sind für kluge Eingebungen. Klugheit bedeutet darum, dass man es wagt, eine andere Perspektive einzunehmen und aufmerksam dafür zu sein, was kommt. Versteht sich jedoch jemand selbst als klug, dann droht die Gefahr, dass er sich selbst zur Quelle der Klugheit macht und seine eigenen Gedanken und Schlussfolgerungen überschätzt. Quelle: „Die vergessene Klugheit“ von Allan Guggenbühl

Von Hans Klumbies