Das Unbehagen in der Gesellschaft nimmt stark zu

Die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten eines Menschen in den westlichen Industrienationen sind in den vergangen Jahrzehnten gewaltig gewachsen. Traditionelle Rollen verloren ihre Bedeutung, gesellschaftliche Bindungen zersetzten sich. Alain Ehrenberg beschreibt in seinem neuen Buch „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ die Unfähigkeit der Menschen, diese Freiheiten und Wahlmöglichkeiten für ein sinnvolles Leben zu nutzen. Als Folge davon nehmen narzisstische Persönlichkeitsstörungen und Depressionen rapide zu. Auf der einen Seite ist die Autonomie des Individuums zum höchsten Wert an sich aufgestiegen, auf der anderen Seite kommt es mit dem Scheitern am Ideal des selbstbestimmten Lebens zu immer mehr Erkrankungen der Psyche. Der Soziologe Alain Ehrenberg erforscht diese Entwicklung an zwei groß angelegten Fallstudien in Frankreich und den USA. Alain Ehrenberg ist Leiter der Forschungsgruppe „Psychotropes, Santé mentale, Société“ am Centre National de Recherche Scientifique (CNRS) in Paris.

Subjektivität und Autonomie sind die Schlüsselbegriffe der Gesellschaft

Die individuellen Erkrankungen werden immer auch als soziale Leiden angesehen. Für Alain Ehrenberg sind sie Phänomene einer individualistischen und privatisierten, krankmachenden Gesellschaft. Schon in der Einleitung beschreibt Alain Ehrenberg, dass Begriffe wie seelische Gesundheit und psychische Leiden, die vor den 1980iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nur eine unbedeutende Rolle spielten, in der Gegenwart eine immer wichtigere Stellung einnehmen. Mit seinem Buch verfolgt der Autor zwei Absichten. Die erste lautet wie folgt: „Sein Ziel besteht zunächst darin, Rechenschaft abzulegen über die Veränderungen, die die Vorstellungen von Subjektivität und Autonomie, welche heute systematisch miteinander verbunden sind, zu Schlüsselbegriffen für unsere Gesellschaft erheben.“

Mit seinem Buch hegt Alain Ehrenberg zweitens die Hoffnung zu zeigen, dass die Menschen entgegen der landläufigen Meinung viel mehr über die Beziehung zwischen den beiden Kategorien des Psychologischen und des Sozialen wissen, als sie glauben. Laut Alain Ehrenberg setzt sein Buch „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ auch eine Reihe von Untersuchungen fort, die der Verbreitung der Normen und Werte der Autonomie gewidmet sind, deren beide Facetten der eroberungslustige sowie der leidende Mensch sind.

Die USA und Frankreich haben unterschiedliche Sorgen

Alain Ehrenberg ist davon überzeugt, dass die Menschen durch die Pathologien eines Ideals des Individualismus einer Sorge Gestalt verleihen, die für das Leben in einer Demokratie kennzeichnend ist. Nämlich die Sorge um die soziale Auflösung, um den Substanzverlust des Gemeinschaftserlebens. Der Autor zeigt in seinem Buch, dass der Glaube daran, der Aufstieg des Individualismus sei gleichbedeutende mit einer Abschwächung der sozialen Bindung ein natürlicher Zug der Demokratie ist.

Laut Alain Ehrenberg entspricht dies der praktischen Notwendigkeit, und ist kein Übel, dass die Demokratie unweigerlich zerstören könnte. Alain Ehrenberg schreibt: „Diese Sorge drückt sich in Frankreich und den Vereinigten Staaten verschieden aus: Bei uns konzentriert sie sich um den Begriff der Institution, während sie sich in den USA auf das Selbst oder die Persönlichkeit bezieht.“

Das Unbehagen in der Gesellschaft

Alain Ehrenberg

Verlag: Suhrkamp

Gebundene Ausgabe: 530 Seiten, Auflage: 2011

ISBN: 978-3-518-58561-0, 29,90 Euro

Von Hans Klumbies