Liebe ist die Verantwortung eines Ichs für ein Du

Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Fantasie; und das Gedächtnis selber verwandelt sich, da es aus der Einzelung in die Ganzheit stürzt. Martin Buber ergänzt: „Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme; und die Sehnsucht selber verwandelt sich, da sie aus dem Traum in die Erscheinung stürzt.“ Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung. Dass die unmittelbare Beziehung ein Wirken am Gegenüber einschließt, ist an folgendem offenbar: die Wesenstat der Kunst bestimmt den Vorgang, in dem die Gestalt zum Werk wird. Das Gegenüber erfüllt sich durch die Begegnung, es tritt durch sie in die Welt der Dinge ein, unendlich fortzuwirken, unendlich Es, aber auch unendlich wieder Du zu werden, beglückend und befeuernd. Martin Buber (1878 – 1965) war ein österreichisch-israelischer Religionsphilosoph.

Der Mensch wohnt in seiner Liebe

Gefühle begleiten das metaphysische und metapsychische Faktum der Liebe, aber sie machen es nicht aus; und die Gefühle, die es begleiten, können sehr verschiedener Art sein. Gefühle werden „gehabt“, die Liebe geschieht. Gefühle wohnen im Menschen; aber der Mensch wohnt in seiner Liebe. Das ist keine Metapher, sondern die Wirklichkeit: die Liebe haftet dem Ich nicht an, so dass sie das Du nur zum „Inhalt“, zum Gegenstand hätte; sie ist zwischen Ich und Du. Wer dies nicht weiß, mit dem Wesen weiß, kennt die Liebe nicht.

Die Liebe ist ein welthaftes Wirken. Martin Buber erläutert: „Wer in ihr steht, in ihr schaut, dem lösen sich Menschen aus ihrer Verflochtenheit ins Getriebe; Gute und Böse, Kluge und Törichte, Schöne und Hässliche, um den anderen wird ihm wirklich und zum Du.“ Liebe ist die Verantwortung eines Ich für ein Du: hierin besteht, die in keinerlei Gefühl bestehen kann, die Gleichheit aller Liebenden, vom kleinsten bis zum größten und von dem selig Geborgenen, dem sein Leben in dem eines geliebten Menschen beschlossen ist, zu dem lebelang ans Kreuz der Welt Geschlagenen, der das Ungeheure vermag: die Menschen zu lieben.

Man kann nur einen Teil eines Wesens hassen

Solange die Liebe „blind“ ist, das heißt; solange sie nicht ein ganzes Wesen sieht, steht sie noch nicht wahrhaft unter dem Grundwort der Beziehung. Der Hass bleibt seiner Natur nach blind; nur einen Teil eines Wesens kann man hassen. Wer ein ganzes Wesen sieht und es ablehnen muss, ist nicht mehr im Reich des Hasses, sondern in dem der menschhaften Einschränkung des Du-sagen-könnens. Das ist aber die erhabene Schwermut des menschlichen Lebens, dass jedes Du in der Welt zum Es werden muss.

Und die Liebe selber kann nicht in der unmittelbaren Beziehung verharren; sie dauert, aber im Wechsel von Aktualität und Latenz. Der Mensch, der eben noch einzig und unbeschaffen, nicht vorhanden, nur gegenwärtig, nicht erfassbar, nur berührbar war, ist nun wieder ein Er oder eine Sie, eine Summe von Eigenschaften, ein figurhaftes Quantum geworden. Nun kann man aus ihm wieder die Farbe seiner Haare, die seiner Rede, die seiner Güte holen; aber solang man es kann, ist er das Du nicht mehr und noch nicht wieder. Quelle: „Ich und Du“ von Martin Buber im Reclam Heft „Was ist Liebe?“

Von Hans Klumbies