Für die Lebenslehre Senecas war die Philosophie nie Bremsklotz, sondern Antrieb. Sie verlangte keineswegs erst zu handeln, wenn man die „Wahrheit“ gefunden hat. Sie ist besonnen und abwägend, nicht zaudernd und grüblerisch. Seneca schreibt: „Niemals erwarten wir das sicherste Begreifen der Dinge, da die Wahrheit ja in steilem Gelände erforscht werde, sondern folgen der Wahrscheinlichkeit.“ Von der Lebensschule Senecas kann jeder Mensch viel lernen. Albert Kitzler erläutert: „Ihre Grundsätze und Weisheiten sind weder beliebig, noch verlieren sie sich in grauer Theorie. Für alle Lebensprobleme bietet sie brauchbare und effiziente Ratschläge und Weisungen.“ Aber in keinem Fall wird sie einem Menschen das eigenverantwortliche Entscheiden und Handeln im jeweiligen Augenblick abnehmen oder vorschreiben. Der Philosoph und Jurist Dr. Albert Kitzler ist Gründer und Leiter von „MASS UND MITTE“ – Schule für antike Lebensweisheit.
Wissen und Können führt zur Weisheit
Wie man einem weisen Rat nur dann folgen soll, wenn man sich selbst durch eigenes Nachdenken davon überzeugt hat, so muss man diesen Rat auch auf die jeweilige Lebenssituation anwenden, und das heißt: anpassen, abwandeln, modifizieren, verstärken oder abschwächen. Da bleibt immer ein Spielraum, den jeder Mensch selbstständig auszufüllen hat. Gerade in diesem Spielraum wachsen Freiheit und Würde, Autonomie und Verantwortlichkeit, entsteht unser ganz eigenes individuelles Leben.
Die kein anderer Denker in der abendländischen Antike betonte Seneca, dass die von der Philosophie angestrebte und gelehrte Weisheit, Wissen und Können ist. Albert Kitzler erklärt: „In der praktischen Philosophie geht es gleichermaßen um Wissen, Einsicht, Erkenntnis, Klarheit wie darum, dass dieses Wissen angewendet und zur Wirklichkeit wird.“ Es kommt darauf an, dieses Wissen in jedem Augenblick auch zu leben und umzusetzen. Denn wo ein Mensch in der Kunst des Lebens an seine Grenzen stößt, da erleidet er Einbußen in seinem Wohlbefinden und seiner Lebensqualität.
Die Weisheit lehrt die Kunst des Lebens
Wer die praktische Philosophie Senecas studiert, absolviert eine Art Doppelstudium: Theorie und Praxis. Beide Teile sind gleichwertig, keiner wiegt schwerer als der andere. Keiner verdient weniger Zeit und Bemühungen als der andere. Das Besondere bei diesem Doppelstudium aber ist, dass die Endnote sich ausschließlich an der Note für die Praxis orientiert. Die philosophischen Schulen der Antike waren daher häufig als Lebensgemeinschaften konzipiert, so dass der Kern der Lehre, die Anwendung des theoretischen Wissens, im täglichen Miteinander gelebt und weitergegeben wurde.
Seneca lehrt: „Die Weisheit ist die vollkommene und aufs höchste und beste ausgebildete Einsicht, denn sie ist die Kunst des Lebens. Der Philosoph, mit anderen Worten der Weise, durchforscht die Ursachen der Naturvorgänge.“ Er deutet an, dass nur in solcher Erkenntnis die vernünftige Natur des Menschen zur völligen Entfaltung kommt. Seneca erkannte, dass aus einem möglichst angemessenen Verständnis der natürlichen und menschlichen Dinge alles andere folgt. Groß ist nach Seneca auch die Macht der vernünftigen Überlegung und des trefflichen Urteils. Quelle: „Leben lernen – ein Leben lang“ von Albert Kitzler
Von Hans Klumbies