Ulrich Greiner analysiert die Begriffe Scham und Schuld

Es gibt so gut wie keine Gesellschaft, in der die Scham derart ausschließlich handlungsgeleitet wäre, dass nicht auch Fragen des Gewissens und der Schuld eine Rolle spielten. Umgekehrt gibt es auch keine Gesellschaft, in der Schuldgefühle nicht auch von Scham begleitet würden. Ulrich Greiner erklärt: „Die Begriffe Schamkultur und Schuldkultur sind also nicht dazu geeignet, eine Entwicklung zu beschreiben, die von einer primitiven Kulturstufe zu einer komplexeren führen würde.“ Sie eignen sich aber wohl dazu, das weitläufige Feld von Scham und Schuld zu analysieren und zu strukturieren. Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

Schuld hat mit der Verletzung eines Gesetzes zu tun

Das moralisch unzweifelhaft Richtige mag einem Menschen Nachteile bescheren, ihn in schwere Konflikte stürzen, aber er würde sich seiner zumeist nicht schämen, wenn er ihm folgte. Der umgekehrte Fall jedoch, dass ein Mensch das moralische Gebot aus bestimmten Gründen missachtet, sei es aus Bequemlichkeit, sei es, weil er findet, es treffe auch ihn in der konkreten Situation nicht zu, führt auch nicht unbedingt zur Scham. Die Philosophin Gabriele Taylor weist darauf hin, dass Schuld in der Regel mit der Verletzung eines Gesetzes zu tun hat.

Ein Mensch kann schuldig sein, muss sich aber nicht schuldig fühlen. Er kann die Schuld – im Gegensatz zur unwillkürlichen Scham – ablehnen. Es gibt einfach Situationen, bei denen ein Mensch unwillentlich Ursache eines Unglücks geworden ist. Der englische Philosoph Bernard Williams definiert die Schuld wie folgt: „Die Schuld schaut vor allem auf das, was ich einem anderen getan habe, ob nun willentlich oder nicht.“ Anders verhält es sich seiner Meinung nach mit der Scham: „Die Scham verweist mich auf das, was ich bin.“

Durch die Scham lässt sich die Schuld kontrollieren

Die Scham kann durch viele Dinge hervorgerufen werden – durch Handlungen, Gedanken, Wünsche oder die Reaktion der anderen. Bernard Williams erläutert: „Selbst wo es ganz sicher um eine Handlung geht, kann es für den Akteur immer noch sehr mühevoll sein, die Quelle der Scham ausfindig zu machen, also ausfindig zu machen, ob diese Quelle in der Intention, in der Handlung oder in dem Resultat der Handlung zu finden ist.“ Gerade weil die Scham auf diese Weise schwer zu durchdringen ist, können sich die Menschen mit Gewinn darum bemühen, sie durchsichtiger zu machen.

Es kann für einen Menschen hilfreich sein, etwa zu verstehen versuchen, wie sich eine Handlung oder ein Gedanke zu einem selbst verhält, zu dem, was man ist und was man realistischerweise von sich erwarten kann. Denn wenn ein Mensch seine Scham versteht, wird er vielleicht auch seine Schuld besser verstehen. Ulrich Greiner erklärt: „Die Struktur der Scham enthält die Möglichkeit, die Schuld zu kontrollieren und von ihr zu lernen, weil wir durch sie ein Verständnis unserer ethischen Identität erhalten, durch das die Schuld einen Sinn erhält.“ Quelle: „Schamverlust“ von Ulrich Greiner

Von Hans Klumbies