Das menschliche Leben war von Anfang an ein gesellschaftliches

Das menschliche Leben funktioniert „normativ“. Das heißt: Es ist von Regeln bestimmt, die nicht allein empirisch sind, also nicht nur aus Erfahrung und Bedingungen bestehen, sondern aus selbst gemachten Wertungen und Zumutungen. Thomas Fischer erläutert: „Die Frage, ob man dies in einem reflektierten, absichtsvollen Sinn „will“ oder als richtig, angemessen, rational empfindet, stellt sich in der Wirklichkeit nicht, denn eine Alternative besteht nicht.“ Das menschliche Leben ist von Anfang an ein gesellschaftliches gewesen und daher untrennbar mit Normativität verbunden. Anders als in den theoretischen Modellen des sogenannten „Gesellschaftsvertrags“ beschrieben, entstanden menschliche Gesellschaften nicht als quasi vertragliche Zusammenschlüsse freier und geistig entwickelter Individuen aus rationalen Gründen, sondern immer und ausschließlich als Gemeinschaften, in einer kollektiven evolutionären Entwicklung aufeinander bezogenen bewussten Handelns. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Die Empathie hat sich im Lauf der Evolution entwickelt

Thomas Fischer stellt fest: „Solche Strukturen findet man auch im Tierreich. Alles andere wäre verwunderlich, denn die Menschen gehören zur selben Natur wie die übrigen Lebewesen. Die gängige Trennung in Pflanzen, Tiere und Menschen ist eine ziemlich einfältige Verzerrung.“ Menschenaffen beispielsweise gehören zu den Tieren, die ein Bewusstsein des eigenen Ichs entwickeln – vermutlich auch ein Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit.

Untrennbar damit verbunden ist die Fähigkeit zur Empathie, also eines Bewusstseins von einem dem Ich gegenüberstehenden „Anderen Ich“ (Du), das eine fremde, eigene Sicht auf die Dinge, Umstände und Handlungen der Welt hat. Aus unbewussten, reflexhaften, „instinktiven“ Reaktionserwartungen – zum Beispiel der Erwartung eines Angriffs beim Zeigen von Aggression – hat sich im Lauf der Evolution entwickelt, was man als empathisches „Gefühl“ bezeichnen kann.

Menschliche Gehirne funktionieren nicht wie Computer

Damit ist nicht, wie in der heutigen Kommunikation im Alltag zumeist, ein „Mitgefühl“ im Sinn von Mitleid, Bedauern, Sympathie gemeint, sondern die schlichte Fähigkeit, sich Gefühle, Gedanken, Absichten einer anderen Person „vorstellen“ zu können. Voraussetzung hierfür ist wiederum die Entwicklung einer dem Ich zugeschriebenen „Gefühls-Sphäre“, die mit der Sphäre des Erkenntnis-Inputs (Kognition) und der Sphäre der Erinnerung verbunden wird – wie mangelhaft oder rudimentär auch immer – bewusst reflektiert werden kann.

Menschliche Gehirne funktionieren nicht wie Computer. Die Kommunikation zwischen Menschen findet nicht quantitativ statt, sondern „intelligent“, das heißt kreativ, gefühlsgestützt und qualitativ. Empathie ist also keine „Schnittstelle“ zum Importieren fremder Daten, sondern eine komplizierte qualitative Deutung der fremden Umwelt auf der Grundlage einer Rekonstruktion der eigenen, die, während sie noch vollzogen wird, die Bedingungen ihrer selbst verändert. Anders gesagt: Der Mensch lernt, noch während er fremde Gefühle versteht oder Absichten erkennt, stets das eigene Ich und verändert es. Das Ende eines kommunikativen Akts trifft insoweit stets schon eine andere Person als ihr Anfang. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer

Von Hans Klumbies