Stephan Bierling kritisiert die Außenpolitik Deutschlands

Stephan Bierling, Professor für Internationale Politik an der Universität Regensburg, fasst die aktuelle weltpolitische Lage wie folgt zusammen: „Chinas Einfluss steigt von Tag zu Tag, Indien und Brasilien wachsen zu Großmächten heran, die Krisen und Konflikte im Mittleren Osten werden immer unüberschaubarer. Die Umbrüche in der Weltpolitik verlaufen in rasender Geschwindigkeit, selten in der Geschichte hat sich die Macht global so schnell verschoben.“ Stephan Bierling kritisiert, dass Deutschland – zweitgrößte Exportnation, Führungsmacht der Europäischen Union, Anführer im Kampf um den Erhalt des Euros und mit seinem Soldaten vom Kosovo bis Afghanistan im Einsatz – in diesem Zusammenhang für die Welt des 21. Jahrhunderts keine Gestaltungskonzepte zu bieten hat. Stephan Bierlings Erklärung dafür lautet, dass Deutschland seit dem Scheitern der EU-Verfassung vor allem mit der Lösung europäischer Krisen beschäftigt ist.

Die Bürger wollen mit Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik nichts zu tun haben

Es findet keine Diskussion darüber statt, welche Außenpolitik Deutschland und Europa in der Welt vertreten sollen. Stephan Bierling erklärt: „Weder Politik noch Bürger wollen eine Debatte über Ziele und Instrumente, die die Weltläufe beeinflussen. Das röche nach Interessen, Macht und Militär, und damit will man seit 1945 nichts mehr zu tun haben.“ Stephan Bierling vertritt die These, dass Deutschland am liebsten eine zweite Schweiz wäre, die ihren Wohlstand mehrt, Nabelschau betreibt und die Welt ihren eigenen Gang gehen lässt.

Stephan Bierling stellt fest, dass es kaum noch gelernte Außen- und Sicherheitspolitiker im Kabinett und im Deutschen Bundestag gibt. Wer in der Politik Karriere machen will, konzentriert sich lieber auf die Sozial- oder Umweltpolitik oder profiliert sich im Bildungs- oder Finanzbereich. Außenpolitik scheint in den Parteien inzwischen sogar ein Karrierekiller zu sein, wie die meisten Bürger mit solchen Fragen nichts zu tun haben wollen.

Deutschland droht im 21. Jahrhundert in der Bedeutungslosigkeit zu versinken

Dieses Vakuum bei der Definition der strategischen Interessen Deutschlands müsste laut Stephan Bierling eigentlich eine außen- und sicherheitspolitische Elite in den Forschungsinstituten, Hochschulen und Medien füllen. Stephan Bierling kritisiert: „Bis auf eine Handvoll Zeitungsjournalisten und Professoren wagt dies jedoch niemand.“ Ein Problem ist auch, dass es in Deutschland keine Denkfabriken wie in Amerika gibt, wo Experten ideologisch kontrovers, aber oft reich an Ideen über die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika in der Welt debattieren.

Stephan Bierling ist fest davon überzeugt, dass sich Deutschland als größte Macht Europas eine außenpolitische Orientierungslosigkeit nicht leisten kann. Der Professor für Internationale Politik erläutert: „Wer nicht weiß, was er will und welche Mittel er für seine Ziele einzusetzen bereit ist, wird in der internationalen Politik schnell vom Subjekt zum Objekt. Man kann nicht einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstreben, aber sich enthalten, wenn über den Schutz libyscher Zivilisten abgestimmt wird. Schafft es Deutschland nicht, eine Debatte über die eigene und Europas Strategie für die Welt des 21. Jahrhunderts zu beginnen, droht dem Land die Bedeutungslosigkeit.“

Von Hans Klumbies