Stummes Wissen durchzieht den Alltag

Künstliche Intelligenz baut keine Welt auf und schon gar nicht das Gefühl, sich in einer solchen Welt zu befinden. Doch gerade dieses „In-der-Welt-Sein“ ist elementar für alles menschliche Erleben. Der deutsche Philosoph Martin Heidegger hat das schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert gezeigt. Von hier aus unterscheiden Menschen, was für sie relevant ist und was nicht. Richard David Precht stellt fest: „Eine riesige Menge stummen Wissens durchzieht unseren Alltag, bestimmt unsere Handlungen und unsere Sprache. Bedeutungen werden nicht logisch erschlossen, sondern dem Kontext abgelauscht. Unser Denken hat einen feinen, gesamtkörperlichen Sinn für Stimmungen, Zwischentöne und komplexe Zusammenhänge.“ Jedes Thema erscheint einem Menschen in einem Horizont von persönlichem und kulturellem Vorwissen. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Der Mensch nimmt Dinge emotional gefärbt wahr

Menschliches Denken ist kein logisches Problemlösen. Und anders als bei jeder künstlichen Intelligenz kommt es einem Menschen nicht nur darauf an, was er sieht, sondern wie er es sieht. Zum „In-der-Welt-Sein“ gehört unweigerlich, dass man die Dinge nicht neutral wahrnimmt und auch nicht neutral für wahr hält. Ob man glaubt, dass etwas stimmt oder nicht, ist weitgehend eine Glaubensfrage, viel weitgehender als man selbst meint. Die allermeisten Dinge im Leben einer Person lassen sich ohnehin nicht mehr oder wenn nur mit größtem Aufwand letztgültig klären.

Richard David Precht erläutert: „Um uns zu orientieren, brauchen wir äußerst selten Beweise. Viel häufiger verlassen wir uns auf unser Vertrauen oder Misstrauen. Menschen, Dinge und Medien werden auf diese Weise immer emotional gefärbt wahrgenommen.“ Man bewertet sie. Und wo man etwas bewertet, muss es Werte geben, die einem Menschen solche Bewertungen ermöglichen. Tatsächlich besteht der menschliche Kosmos, so wie man ihn wahrnimmt, viel stärker aus Bewertungen als etwas aus Atomen.

Künstliche Intelligenz empfindet keine Werte

Die meisten Menschen erkennen folgende Werte an: Vertrauen, Wahrheit, Freiheit, Freundschaft, Respekt, Loyalität und Hilfsbereitschaft. Sie halten diese nicht intuitiv für ihre ganz subjektiven Werte, sondern für objektiv richtig. Ja sie glauben sogar, dass es die Freundschaft und die Wahrheit gibt, auch wenn analytische Philosophen damit nicht viel anfangen können. Im echten Leben jenseits aller sprachlogischer Philosophie spielen Werte eine gewaltige Rolle.

Werte sind dabei subjektiv empfundene Vorzüge, die mit den Menschen auf der Welt sind, sodass sie diese für genauso objektiv halten wie Gegenstände. Künstliche Intelligenz hingegen empfindet keine Werte. Selbst wenn man versucht, ihr sogenannte Werte einzuprogrammieren, hat sie keine. Denn ein Wert, den man nicht zugleich empfindet, ist keiner. Die Qualität von Liebe, Freundschaft, Charme und Takt ist ohne Gefühle und ohne die volle Beteiligung aller Sinne schlichtweg nicht erklärbar. Quelle: „Künstliche Intelligenz“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies