Jacob Burckhardt: "Geschichte macht weise für immer"

Für den Historiker Ulrich Schlie befindet sich die Welt wieder einmal in einer Übergangszeit, wie 1815 nach dem Wiener Kongress oder wie 1919 nach dem Ersten Weltkrieg. Was in den Nullerjahren als Phänomene des Übergangs betrachtet wurde, scheint sich mehr und mehr zu verfestigen. Ulrich Schlie, dessen Spezialgebiet die Geschichte seit dem 18. Jahrhundert ist, erklärt: „Da ist die Zweiteilung der Welt in Regionen von hoher Integration und solche von Zerfall. Da sind die neuen Bedrohungen jenseits des Militärischen, die Verschiebung, wenn nicht gar die Aufhebung der Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre.“

Scheinbare Innovationen entwickeln sich über längere Zeiträume

Zu den Phänomenen der Verfestigung zählt Ulrich Schlie auch das Internet, das er als zweischneidiges Schwert betrachtet. Auf der einen Seite ist es ein Fluch, wie der Krieg im Cyberspace oder die Internetspionage belegen. Auf der anderen Seite ist es ein Segen, weil es sekundenschnelle Datenübertragung und grenzenlosen Wissenszugang erlaubt. Über die Politik schreibt Ulrich Schlie folgendes: „Die internationale Politik ist gekennzeichnet durch Abgabe von Souveränität, durch Verlagerung von Kompetenzen auf eine höhere Ebene, zugleich aber durch die Renaissance des Nationalstaatsdenkens.“

Ulrich Schlie stellt fest, dass keines dieser Phänomene ganz plötzlich da war, sondern sich über längere Zeit entwickelt haben. Dasselbe gilt für die vergangenen Jahrhunderte. Das 19. Jahrhundert definiert der Historiker als das Jahrhundert der Revolution, das mit der Französischen Revolution von 1789 beginnt und mit der russischen Oktoberrevolution im Jahr 1917 endet. Ulrich Schlie sagt: „Das Leitmotiv des 19. Jahrhunderts, der Ruf nach Freiheit, ging auf das Zeitalter der Aufklärung zurück, auf das Jahrhundert davor.“

Die ersten Jahrzehnte der Jahrhunderte sind Übergangszeiten

Auch das 20. Jahrhundert, das Zeitalter der Massen, wie Ulrich Schlie es bezeichnet, reicht tief ins 19. Jahrhundert zurück. Die Entartungen der Jahrhundertmitte hatten im 19. Jahrhundert erste Vorboten. Das 20. Jahrhundert war nicht nur ein Zeitalter der Extreme, sondern auch eines der Ideologien. Außerdem endete im ersten Jahrzehnt die letzte Phase europäischer Expansion mit der Aufteilung Afrikas und der Randgebiete Asiens. Innerhalb weniger Jahrzehnte war ein Ordnungsgefüge zusammengebrochen, für das kein Ersatz geschaffen worden war.

Für den Historiker Ulrich Schlie waren die ersten Jahrzehnte der vergangenen Jahrhunderte allesamt Übergangszeiten, an deren Ende ein überlebtes Gefüge neu geordnet wurde, entweder mit großer Kraftanstrengung oder mit dem großen Knall. In der Regel ging diese Neuordnung nach 30 Jahren von neuem los. Ulrich Schlie belegt seine Thesen mit einem Beispiel: „Die zerbrechliche Ordnung der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg brach bereits 20 Jahre später unter den Erschütterungen des Krieges zusammen, der als europäischer Normalkrieg begann und als Weltbrand endete.“

Die Menschheit braucht eine stabile und gerechte Weltordnung

Auch das 21. Jahrhundert ist laut Ulrich Schlie tief im 20. Jahrhundert verwurzelt. Er konkretisiert: „Ordnung auf Chaos, Integration gegen Zerfall, das Streben nach Domestizierung der Macht durch Recht – dies sind auch die Themen des ausgehenden 20. Jahrhunderts gewesen.“ Nach dem Ende des Kalten Kriegs hat sich die Welt nicht grundlegend geändert.

Der Nationalstaat hat sich nicht in Luft aufgelöst, die Leidenschaften der Nationen belasten auch im 21. Jahrhundert die internationale Politik. Sie hat die Aufgabe, eine stabile und gerechte Weltordnung zu schaffen. Dies kann nur gelingen, wenn die Politiker die Geschichte der Welt kennen. Der große Historiker Jacob Burckhard hat einmal gesagt: „Geschichte macht nicht klug für ein andermal, sondern weise für immer. Ohne die Kenntnis der Vergangenheit indes können Gegenwart und Zukunft nicht verstanden werden.“

Von Hans Klumbies

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