Der Missbrauch, den die kosmologische Romantik mit dem Naturbegriff trieb, hat diesen laut Henri Lefebvre in Misskredit gebracht, obwohl systematische Philosophie bislang nie auf eine Philosophie der Natur verzichten wollte. Naturalismus und Naturismus haben den Begriff der Natur regressiv in Beschlag genommen, haben ihn bald verschnörkelt, bald einem von Physik oder der Physiologie abgezogenen elementaren Szientismus unterworfen. Schließlich ist der Naturbegriff durch die bürgerlichen und technizistischen Verzückungen schier unerträglich geworden, angesichts der mit den modernen Hilfsmitteln eroberten Welten des Schweigens, der Abgründe und Höhen. Henri Lefebvre schreibt: „Die Natur ist vom Journalismus, von der Literatur, den Massenmedien und zugleich von einer dekadenten Ontologie okkupiert worden.“ Seiner Meinung nach hat man die Natur entschärft, indem man sie interessanter machen wollte. Die ihr angedichtete Pittoreskheit und das Geschwätz über Natur haben ihren Begriff trivialisiert.
Für die Reflexion ist das Sein zweifach bestimmt
Dennoch ist der Naturbegriff für Henri Lefebvre keineswegs erschöpft. Er lebt sogar wieder auf. Seiner Meinung nach hat er noch metaphilosophische und oder philosophische Überraschungen in der Hinterhand. Zum Teil liegt der Grund dafür in der Erforschung des Mikro- und des Makrokosmos. In seiner Unbestimmtheit bezeichnet der Naturbegriff auch die kosmische Realität, ohne zugleich eine Kosmologie der Ontologie zu implizieren. Doch Henri Lefebvre sieht darin nicht den einzigen Grund für seine Erneuerung.
Henri Lefebvre schreibt: „In der gesellschaftlichen Praxis brechen heute die Widersprüche auf zwischen dem Spontanem und dem Abstrakten, zwischen Natur und Technik, zwischen Natur und Kultur.“ Deren Verhältnis ist seiner Meinung nach ausschließlich im Rahmen eines dialektischen Konflikts zu erfassen, worin unter einem doppelten Aspekt ebenso die Kultur gedacht wird wie die Natur. Denn für die Reflexion ist das Sein zweifach bestimmt. Es ist zunächst das Sein der Repräsentation, das vorgestellte abstrakte Sein.
Der Mensch kann sich von der Natur nicht trennen
Dieses erste Sein ist dem Bereich der Grammatik und Logik zugehörig. Doch insoweit der Diskurs Teil der Praxis ist, geht das abstrakte Sein über die Abstraktion hinaus. Die Repräsentation begibt sich laut Henri Lefebvre vor das Aktuelle und Vollendete. Sie bescheidet sich nicht damit, das Empirische weniger reich als die praktischen Erfahrungen darzustellen. Sie bezeichnet auch das Ziel des Handelns. Allerdings ist das Sein dem Bewusstsein nicht nur voraus, es hinkt ihm auch hinterher.
Die Natur verweist einerseits auf das menschliche Sein, die menschliche Natur, die zwar aus der Geschichte heraustreten, sich aber niemals von der Natur wird trennen können. Henri Lefebvre fügt hinzu: „Andererseits bezeichnet die Natur, woraus die Geschichte hervorgeht, das, was sich verwandelt und zugleich in den sukzessiven Formen des Handelns, der Abstraktion, der Zeichen, die das Handeln ermöglichen und tragen, und der menschlichen Macht sich enthüllt.“
Kurzbiographie: Henri Lefebvre
Henri Lefebvre, der von 1901 bis 1991 lebte, war ein marxistischer Soziologe, Intellektueller und Philosoph. Lage bevor es Mode wurde, die Probleme des Alltagslebens auch für die Theorie der Philosophie, Soziologie und Ästhetik zu reklamieren, hat Henri Lefebvre die Dialektik zwischen Überbau – Kultur, Wissenschaften, Recht, Religion – und der Alltagswelt der Menschen zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung gemacht.
Ein der aufschlussreichsten Arbeiten auf diesem Gebiet ist sein Buch „Einführung in die Modernität“ indem er Ideen, Symbole, menschliche Ausdrucksweisen und Einstellungen betrachtet, die das mitkonstituiert haben, was heute moderne Gesellschaft heißt. Henri Lefebvre zeigt einen Zusammenhang zwischen Handlungen und Problemen auf, in dem die Menschen sich wiedererkennen und der die Findung ihrer Identität ebenso wie ihre Deutung der Welt bestimmt.
Von Hans Klumbies