Wenn an allen Orten und bei jeder Gelegenheit das Ideal des nur auf sich gestellten Individuums eingefordert wird, das sich allein seiner Selbstverwirklichung, Selbstoptimierung und Unabhängigkeit verpflichtet sieht, dann stellt sich für Ernst-Dieter Lantermann die Frage, wie unter diesen Bedingungen überhaupt noch so etwas wie sozialer Zusammenhalt zustande kommen kann. Untersuchungen zeigen in der Tat, dass moderne Gesellschaften sich immer rascher hin zu einer Auflösung des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalts, zu eine fortschreitenden sozialen Desintegration entwickeln. Nicht wenige Menschen erkennen darin eine Chance, die in früheren Zeiten für sie undenkbar gewesen wäre: Unter der Voraussetzung, dass sie über die notwendigen Mittel und Ressourcen verfügen, dürfen und können sie selber entscheiden, welchen Organisationen, Institutionen, Lebensmilieus oder Gruppierungen sie sich zugehörig fühlen, wofür sie sich engagieren und wo sie sich integrieren möchten. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.
Zehn Prozent der Deutschen besitzen mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens
Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „Die begreifen diese Entwicklung als einen produktiven Zugewinn an Wahlfreiheit und sozialer Teilhabechancen. Gleichzeitige verschärfen sich die sozialen Ungleichheiten. Die Schere zwischen Reich und Arm klafft immer mehr auseinander.“ Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes Ende Januar 1016 belegen, dass zehn Prozent der Deutschen mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens im ganzen Land besitzen. Zudem werden die Bildungs- und Aufstiegschancen immer ungleicher verteilt, die Lebenslagen vieler Menschen immer instabiler und prekärer.
Viele Menschen fürchten sich vor einer weiteren sozialen Spaltung. Sie leiden unter der Sorge, ohne jede soziale Unterstützung alleine mit ihren Problemen zurechtkommen zu müssen. Den Verlust an gesellschaftlichem Zusammenhalt erleben sie als eine Aufkündigung der Solidarität, Fairness und Gerechtigkeit, auf deren Geltung sie in ihrer unsicheren Lebenslage eigentlich angewiesen wären. Viele fühlen sich sozial und gesellschaftlich ausgeschlossen. Wer dieses Gefühl hat, verliert auf Dauer jede Zukunftszuversicht, jedes Vertrauen in sich und seine soziale Umwelt.
Prekäre Lebenslagen zeichnen sich durch Ungewissheit und Unsicherheit aus
Die Auflösung traditioneller Formen des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalts schafft somit weitere Unsicherheiten. Eine häufige Ursache dafür sind prekäre Lebensverhältnisse, unter denen Menschen ihr Leben fristen. Ernst-Dieter Lantermann erläutert: „Immer mehr Menschen fehlt es an Einkommen, einer sicheren Berufsperspektive und einer verlässlichen sozialen Einbindung, auch an einer Bildung, die es ihnen erleichtern würde, mit den Folgen des gesellschaftlichen Wandels zurechtzukommen.“
Charakteristisch für prekäre Lebenslagen sind die Ungewissheit und Unsicherheit, wie es weitergehen könnte. Man fürchtet das Schlimmste für die Zukunft, fragt sich, wie sicher der Job noch ist, wie lange das Geld noch reicht, was passieren wird, wenn unerwartete Ausgaben auf einen zukommen. Man weiß nicht, wie sich die Verhältnisse weiterentwickeln, oft noch nicht einmal, was man konkret unternehmen könnte, um dieser permanenten Gradwanderung zwischen Zuversicht und Panik zu entkommen. Quelle: „Die radikalisierte Gesellschaft“ von Ernst-Dieter Lantermann
Von Hans Klumbies