Wer mitten im Berufsleben steht und viel mit Leuten zu tun hat, möchte am Wochenende wahrscheinlich abschalten, sich „ausklinken“ und die Seele baumeln lassen. Auch den Chef möchte er am Wochenende nicht sehen. Manfred Spitzer erläutert: „Ein solcher Mensch, der die Einsamkeit sucht, um dem Stress zu entgehen, käme wahrscheinlich nicht auf den Gedanken, dass Einsamkeit mit Stress eng zusammenhängt.“ Akute Einsamkeit muss Stress auslösen, denn sie stellte im Laufe der menschlichen Entwicklung immer schon den größten denkbaren Notfall dar. Auf sich allein gestellt, ist das Gemeinschaftswesen Mensch nicht überlebensfähig, insofern leuchte tes ein, dass das Leben in einer Gemeinschaft das Stressniveau senkt. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen.
Das Gefühl der Machtlosigkeit löst Stress aus
Obwohl der Mensch seit etwa 10.000 Jahren in größeren Gemeinschaften lebt, ist die uralte aus den Zeiten der Horde stammende Notfallreaktion immer noch genetisch angelegt. Der Stress der Erwachsenen im Beruf ist schlimm genug, insbesondere wenn über längere Zeiträume immer wieder Hilflosigkeit und Einsamkeit erlebt werden. Noch stärker als beruflicher Dauerstress scheinen sich jedoch Erlebnisse der Einsamkeit in der Kindheit auszuwirken, denn dadurch wird schon in jungen Jahren die Empfindlichkeit des gesamten Stresssystems schon in jungen Jahren verstellt.
Stressauslösend sind nicht die unangenehmen Erfahrungen, vielmehr ist es das Gefühl, ihnen machtlos ausgeliefert zu sein. Manfred Spitzer erklärt: „Wenn wir spüren, dass wir keine Kontrolle über unser Leben haben, leiden wir unter chronischem Stress.“ Die Krankheiten, die bei chronischem Stress entstehen, gehören zu den häufigsten in der zivilisierten westlichen Welt. Chronischen kann man in der Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen abbauen. Wenn man hingegen ein zurückgezogenes Leben führt und dauerhaft Einsamkeit empfindet, führt dies zu chronischen Krankheiten.
Das Smartphone entwickelt sich zum Kommunikationsmittel schlechthin
Das Internet und das darauf aufbauende World Wide Web werden von vielen als die Technik gegen die Einsamkeit gesehen: Immer online und damit immer mit allen verbunden sein zu können, zu jeder Zeit und an jedem Ort, erscheint vielen Menschen als der soziale Fortschritt einer digitalisierten Gesellschaft. Insbesondere die milliardenfache Nutzung sozialer Onlinemedien wie Facebook oder Twitter ist für viele mit der Hoffnung verknüpft, dass damit Gefühle der Einsamkeit ein für alle Mal der Vergangenheit angehören.
Als das im Jahr 2007 aufkommende Smartphone die Telefonie revolutionierte, war die digitale Informationstechnik (IT) nicht mehr ein Kommunikationsmittel unter vielen anderen, sondern das Kommunikationsmittel schlechthin. Das alles geschah sehr schnell, ohne dass die Menschen Zeit gehabt hätten, über die Einflüsse und Folgen dieser Veränderungen nachzudenken. „Technikfolgenabschätzung“ ist bis heute ein Fremdwort im Bereich der Digitalisierung. Die neue Technologie hat sich inzwischen in alle Bereiche des Alltags eingenistet. Quelle: „Einsamkeit“ von Manfred Spitzer
Von Hans Klumbies