Ein Ich ohne eigenes Zentrum ist eine fremdbestimmte Existenz

Das Titelthema im neuen Philosophie Magazin 02 /2014 heißt „Das zerstreute Ich“. Die Autoren stellen sich dabei unter anderem die Frage, ob die Fliehkräfte des digitalen Kapitalismus im Begriff sind, neben dem Alltag auch das Innerste der Menschen zu zerreißen. Denn der Alltag der meisten Individuen wird zunehmend von Unterbrechungen und Multitasking bestimmt. Im Dauerfeuer der medialen Reize fällt es scheinbar immer schwerer, auch nur einen einigen klaren Gedanken zu fassen. Die Anzahl der ADHS-Fälle steigt ebenso kontinuierlich wie Diagnosen von Burn-out. Für Chefredakteur Wolfram Eilenberger ist dafür auch das Internet verantwortlich, deren Strukturen einer Logik der Fragmentierung folgen. Außerdem hat die Allgegenwart des Netzes für Millionen von Menschen zu einer dauerhaft pendelnden Ortlosigkeit bei ständiger Abrufbereitschaft geführt.

Für die Inka gab es keinen Gegensatz zwischen Natur und Kultur

Das Ansehen der Zerstreuung schwangt seit der antiken Philosophie und heute zwischen Fluch oder Segen. Für Christoph Türcke, Philosoph und Professor an der Hochschule für Gestaltung und Buchkunst in Leipzig, kann Zerstreuung sowohl sehr entspannend sein, wenn man seine Gedanken frei schweifen und sich treiben lässt. Fatal ist seiner Meinung nach aber die „konzentrierte Zerstreuung“, die permanente, systematische. Die hat etwas Gewalttätiges an sich. Als Beispiel nennt er die Arbeit in einem Callcenter.

Alexandre Lacroix widmet sich im neuen Philosophie Magazin dem Gedankenreich der Inka. Für ihn ist diese Zivilisation auch 500 Jahre nach ihrer Auslöschung durch die spanischen Konquistadoren noch immer faszinierend. Vor allem die Inkastadt von Ollantaytambo hat ihn nachhaltig beeindruckt. Im Denken der Inka gibt es noch Einheiten, die im Abendland recht bald in Dualismen übergehen. Alexandre Lacroix erklärt: „Zum Beispiel gibt es weder einen Gegensatz zwischen Landwirtschaft und Architektur noch zwischen Natur und Kultur.“

Für Michael Haneke ist Gewalt im Kino als Konsumartikel unerträglich

Jede Ausgabe des Philosophie Magazins widmet sich einem Klassiker unter den Philosophen. Diesmal gilt die Aufmerksamkeit Epikur, der seinen Schülern die Lust aufs Leben vermittelte. Von seien Zeitgenossen wurde er allerdings als Vielfraß und Sittenstrolch verunglimpft. Epikur stellte den menschlichen Leib ins Zentrum seines Denkens und formulierte ausgehend von dessen zentralen Bedürfnissen eine Philosophie des guten Lebens. Epikur findet das Glück der Menschen in einer offenen Anerkennung ihrer eigenen Bedürfnisse und Triebe. Er betont allerdings auch die sorgsame Pflege des Selbst.  

Besonders interessant ist auch das Interview mit Oscarpreisträger Michael Haneke, dem Philosophen unter den Regisseuren. In den meisten seiner Filme beschreibt er mit größter Präzision Menschen in ihrer Unberechenbarkeit. Filme zu machen geht für Michael Haneke mit einer moralischen Verantwortung einher. Fatal findet er es, wenn Gewalt im Kino als Konsumartikel präsentiert wird. Das Philosophie Magazin hat natürlich wie immer noch viel mehr gute Geschichten zu bieten: Unter anderem ein Streitgespräch zwischen der Schriftstellerin Juli Zeh und der Historikerin Ute Frevert über NSA, Staatsspionage und freiwillige Selbstentblößung.

Von Hans Klumbies