Deutschland muss sich wegen der Flüchtlinge neu erfinden

Die Herausforderungen sind gewaltig. Das Gleiche gilt allerdings auch für die Chancen. Über eine Million aufgenommene Flüchtlinge stellen Deutschland vor großen Fragen: der globalen Verantwortung, der nationalen Identität, der Zukunft einer offenen Gesellschaft. Im Titelthema „Was tun?“ beantworten im neunen Philosophie Magazin 02/2016 Februar/Marz 27 Philosophen die drängendsten Fragen. Für Chefredakteur Wolfgang Eilenberger markiert das Jahr 2015 das Ende der zentralen Lebenslüge einer ganzen europäischen Generation: „Ich sprechen von der Illusion eines Kerneuropas als eines mauerlosen Paradiesgartens in einer Welt des Elends.“ Die moralische Verpflichtung, Geflüchtete aufzunehmen kennt für Marc Crépon keine Grenzen. Denn man muss sich dabei zuallererst bewusst machen, dass die Zustimmung oder Ablehnung, sie aufzunehmen, in vielerlei Hinsicht der Macht über Leben und Tod gleichkommt. Seiner Meinung nach kommt der politische Wille, Geflüchtete zurückzuweisen und sie so der sicheren Gewalt auszuliefern, einer Billigung von Mord gleich.

Die Welt steht in Flammen

Rupert Neudeck, der Gründer des Hilfskomitees Cap Anamur erklärt: „Eine Integration kann nur gelingen, wenn sie vom ersten Tag des Betretens deutschen oder europäischen Bodens vorbereitet wird.“ Seiner Meinung nach sind die schlimmsten Hindernisse der Integration die Untätigkeit und die Passivität, zu denen das deutsche Asylbewerbersystem nicht nur neigt, sondern die es verfügt. Die Menschen, die hier auf ihr Einleben warten, dürfen bis zu 17 Monate nichts tun, dürfen sich außerhalb der Bannmeile ihres Ortes nicht bewegen. Sie werden geradezu stillgestellt.

Für den Politikwissenschaftler Claus Leggewie ist die Masseneinwanderung die neue Wirklichkeit. Sie wird heftig und gelegentlich zum Verzweifeln sein. Aber Claus Leggewie bleibt dabei: „Dies gibt Europa, dessen politische Union schon in Scherben zu liegen scheint, die Chance zum Austritt aus seiner Müdigkeit und Zerrissenheit.“ Das Leben auf der ethisch und (a)religiös homogenen Wohlstandsinsel ist endgültig passé, da die Welt in Flammen steht. Ob die Zahl der Flüchtlinge im Jahr 2016 weiter steigen oder abnehmen wird, kann noch niemand beantworten.

Banker sind Spieler

Die Rubrik „Der Klassiker“ steht diesmal im Zeichen von Henri Bergson und seinem Verständnis des Gedächtnisses. Das Gedächtnis ist für ihn mehr als nur ein Erinnerungsspeicher, denn es ist mit der ganzen Persönlichkeit verbunden. Das Gehirn lässt Erinnerungen in der Versenkung verschwinden, die gerade den Reichtum des menschlichen Geisteslebens ausmachen. Doch dieser Schatz ist nicht verloren. Henri Bergson zufolge können Menschen die versunkenen Erinnerungen in der Tiefe des Gedächtnisses wiederfinden. Das Gedächtnis ist nicht nur die Erinnerung an etwas, sondern auch die Erinnerung von jemandem.

Für Arjun Appadurai ist die Globalisierung ein zirkulierender Strom von Formen. Der indische Kultursoziologe legt verborgene Verbindungen frei, in denen die Dinge nicht nur Waren, sondern Akteure sind. Das Philosophie Magazin hat mit ihm über die vitale Kraft der Ideen, spielende Banker und den internationalen Terrorismus gesprochen. Über die Banker sagt Arjun Appadurai folgendes: „Im Grunde zaubern die Banker. Sie sind Spieler, die mithilfe von Daten, Tendenzanalysen, Prognosekurven, mit Modellen, die für einen kleinen Kreis bestimmt sind, Vorhersagestrategien entwerfen.“

Von Hans Klumbies