Alles könnte auch anders sein

Nichts, buchstäblich nichts, ist mit absoluter Notwendigkeit so, wie es gerade ist. Daraus lässt sich ableiten, dass alles auch anders sein könnte. Armin Nassehi erklärt: „Der Fachbegriff dafür ist Kontingenz. Er meint: nichts ist notwendigerweise so, wie es ist, aber eben auch nichts ist zufällig so, wie es ist.“ Das sozialwissenschaftliche Denken beginnt also mit einer doppelten Erfahrung. Einerseits weiß man am besten von allen, wie arbiträr, bisweilen sogar fragil, in jedem Fall aber historisch relativ und damit konstruiert das Meiste ist. Andererseits weiß man mit am genauesten, wie wirkmächtig gesellschaftliche Muster sind und wie stark das menschliche Verhalten strukturiert ist. Das individuelle Verhalten wie auch der Zustand sozialer Aggregate sind sehr berechenbar. Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Die Idee der Freiheit des Handelns ist sozialen Ursprungs

Das ist es, wofür sich die Soziologie interessiert. Nämlich wie sehr sich das Verhalten der Menschen, ihr Handeln den sozialen, den gesellschaftlichen Antezedenzbedingungen verdankt. Und wie sehr selbst die Idee der Freiheit des Handelns sozialen Ursprungs ist. Bei genauem Hinsehen stößt man dabei stete auf so etwas wie „Auftraggeber“, die das Subjekt zum Subjekt machen, wie Peter V. Zima treffend formuliert. Bis René Descartes war dieser Auftraggeber Gott, später die Vernunft und die sich entfaltende Geschichte.

Armin Nassehi stellt fest: „Die Autonomie des Subjekts wurde stets mit einer Autonomiequelle versehen, was schon in sich wie ein performativer Widerspruch klingt. Und das sollte nun nicht mit einer philosophischen Aussage verwechselt werden.“ Auf die Gesellschaft stößt man, wenn man die soziale Lage mit den Handlungen korreliert. Man kann es schon daran sehen, dass der Sinn einer Handlung immer von anderen Handlungen abhängig ist.

Das Handeln kann man nur als System beschreiben

Handeln ist eine Schimäre – in dem Sinne, dass die Handlung selbst nur eine Verkürzung darstellt. Talcott Parsons, der vielleicht wirkmächtigste Soziologe des 20. Jahrhunderts, hat gezeigt, dass man das Handeln nur als System beschreiben kann. Er hat das bloße Handeln einer Person als ein System beschrieben, das aus Komponenten besteht. Diese führen erst gemeinsam dazu, dass Handlungen möglich sind. Handeln ist zudem etwas, das der Handelnde willentlich hervorbringt und zielgerichtet absolvieren kann.

Talcott Parsons hat zudem am deutlichsten darauf hingewiesen, dass es nicht der Handelnde als eine der Handlung externe Präsenz ist, welche die Handlung hervorbringt. Armin Nassehi ergänzt: „Vielmehr kann der Handelnde jene Komponenten, von denen das Handeln abhängig ist, gar nicht selbst kontrollieren oder gar hervorbringen.“ Eine Handlung lässt sich immer nur als eine Handlung unter anderen verstehen. Und die Voraussetzung des Handelns liegt exakt in diesen Komponenten. Diese sind je selbst nicht voraussetzungslos. Quelle: „Unbehagen“ von Armin Nassehi

Von Hans Klumbies