Das Leben ist heute nicht besser oder schlechter als früher

Auch im Binnenraum der technischen Zivilisation, der ihn mehr und mehr als sekundäre Ersatznatur umgibt, bleibt der Mensch doch immer der primären Natur verhaftet. Die Anpassungsfähigkeit des Menschen ist zwar außerordentlich, aber dabei wird häufig übersehen, dass offenbar nur unter Einhaltung bestimmter Minimalbedingungen die Kümmerform seines Existierens überschritten wird. Alexander Mitscherlich erklärt: „Die Geschichte der Menschheit ist, wie die Ethnologie lehrt, voll von Beispielen unproduktiver, eben kümmerlicher Gesellungsformen, deren mentales Niveau sehr bescheiden blieb.“ Er macht dafür vornehmlich die unzureichende oder einseitige Ernährungsbedingungen, klimatische Extreme oder natürliche Feinde verantwortlich. In der industrietechnischen Natur wirken andere feindliche Belastungsfaktoren, die eine freie Entwicklungsmöglichkeit der Menschen schleichend, aber deshalb nicht weniger gravierend hemmen und zu typischen Verkümmerungen führen können.

Alexander Mitscherlich kritisiert eine moderne Form des Snobismus

Heute ist das Leben laut Alexander Mitscherlich nicht besser oder schlechter als es früher war, sondern nur anders. Die Entwicklung des menschlichen Lebens ist nicht vorhersagbar. Die beste menschliche Selbstdarstellung hat es nie gegeben und wird es auch niemals geben. Es gibt immer neue und andere, aber eben auch sehr neuartige, die Alexander Mitscherlich als Mutationsvorgänge bezeichnet. Ganz wichtig ist für einen Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort oder Initiative. Alexander Mitscherlich ergänzt: „Um Schwung zu haben, muss man sich von einem festen Ort abstoßen können, ein Gefühl der Sicherheit erworben haben.“

Alexander Mitscherlich vertritt die These, dass es einen modernen Snobismus gibt, der sich wirklichkeitsnahe und aufgeklärt vorkommt, weil er die sentimentalen Rückwärtsräume unter der Last dessen, was den Menschen gegenwärtig weh tut, nicht aufsucht. Aber in Wirklichkeit vollzieht ein solches Individuum eine faule Anpassung an alles, was ungekonnt, brutal und verachtungswürdig in unserer Gegenwart ist. Alexander Mitscherlich rechnet auch einige Soziologen und Sozialpsychologen Deutschlands zu dieser Gruppe der geheimen Beruhiger, wie er sie nennt.

Ohne emotionale Nachbarschaft kann keine reife Menschlichkeit entstehen

Der Mensch und seine Umwelt sind untrennbar miteinander verbunden. Auch der städtische Mensch der Siedlungs- und Produktionszentren und die Lebensbedingungen, die ihm dieser technische Raum aufzwingt, sind unlöslich aneinandergekettet. Ebenso hegt Alexander Mitscherlich keinen Zweifel daran, dass ohne emotionale Nachbarschaft keine reife Menschlichkeit entstehen kann. Denn der Mensch ist und bleibt ein Sozialwesen. Nachbarschaft muss auch funktional gesehen werden. Das heißt, nur wo man auf den Nachbarn angewiesen ist, macht man von ihm als Nachbarn Gebrauch.

In den Städten, in denen die meisten Menschen in Anonymität leben, wird jede Anstrengung zur Befriedigung von Bedürfnissen unternommen, wobei man versucht, ohne Kommunikation auszukommen. Die vollendete Auflösung der städtischen Gesellung spiegelt sich für Alexander Mitscherlich in dem Wort „Selbstbedienung“. Dennoch ist die Menschheit zu dem geworden, was sie heute ist, weil sie in den Städten ihre Wurzeln hat. Die Stadt ist der Geburtsort der bürgerlichen Freiheit, dieses Lebensgefühls, das sich den dumpfen Herrschaftsgewalten widersetzte.

Kurzbiographie: Alexander Mitscherlich

Der Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich, geboren am 20. September 1908 in München, leitete von 1960 bis 1976 das von ihm gegründete Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Im Jahr 1969 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zu seinen Hauptwerken zählen: „Auf dem Weg zu vaterlosen Gesellschaft“, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, „Die Unfähigkeit zu trauern“ sowie „Die Idee des Friedens“. Alexander Mitscherlich starb am 26. Juni 1982 in Frankfurt am Main.

Von Hans Klumbies