Die Unternehmensführung hat sich in 30 Jahren total verändert

Mit der Hauptversammlung am 20. Mai 2014 endet die Amtszeit des Vorstandsvorsitzenden der Linde AG, Wolfgang Reitzle. Er wechselt dann ohne Pause auf den Verwaltungsratsvorsitz des Schweizer Unternehmens Holcim. Wenn die Fusion mit der französischen Firma Lafarge genehmigt wird, soll Wolfgang Reitzle Chairman des weltgrößten Zementherstellers Lafarge-Holcim werden. Viele Manager aus Deutschland zieht es in die Schweiz. Deutsche Verwaltungsratspräsidenten leiten Schweizer Konzerne wie ABB, Roche oder UBS. Wolfgang Reitzle kennt die Gründe dafür: „Für jemanden, der wirklich etwas bewegen will, ist die Rolle des Verwaltungsrats interessanter als ein Aufsichtsratsmandat in Deutschland. Das hängt damit zusammen, dass die Corporate Governance und die Unternehmensstatuten in der Schweiz eine maßgeschneiderte Konzernführung erlauben. Wolfgang Reitzle bestätigt, dass sich in den 30 Jahren, in denen er im Topmanagement tätig ist, die Unternehmensführung gravierend verändert hat.

Die globalisierte Wirtschaftswelt erlaubt keine Atempause mehr

Zu Beginn der Karriere von Wolfgang Reitzle, war es für einen Manager einfacher zu planen. Die Dinge waren seiner Meinung nach berechenbarer und strukturierter. Zudem gab es Konjunkturzyklen, die von den volkswirtschaftlichen Abteilungen der Konzerne sehr genau vorhergesagt werden konnten. Es herrschte damals also geringe Volatilität und es gab Wachstum. Heute ist es umgekehrt. Wolfgang Reitzle erklärt: „Wir sind mit niedrigem Wachstum und einer hohen Volatilität konfrontiert.“

Laut Wolfgang Reitzle gibt es in keiner Branche mehr Zyklen, die man vorhersehen könnte. Außerdem muss sich jeder Konzern auf der internationalen Ebene mit ausgezeichneten Wettbewerbern auseinandersetzen, denn die schlechten Unternehmen existieren schon längst nicht mehr. Die globalisierte Wirtschaftswelt erlaubt heutzutage keine Atempause mehr. Die Manager müssen ständig erreichbar sein und schnell reagieren können. Es gilt: „Business around the clock“. Zudem operierten die deutschen Unternehmen früher mehr auf Europa zentriert.

Veränderung muss in Deutschland wieder als Chance begriffen werden

Wolfgang Reitzle gibt zu, dass es den harten Wettbewerb schon immer gab, aber er lange nicht so ausgeprägt war wie heute und außerdem war dieser vorhersehbar. In der Gegenwart sieht das ganz anders aus, wie Wolfgang Reitzle erläutert: „Heute ist ein anderer Managementstil gefordert. Sie müssen in Szenarien denken, nicht in Fünfjahresplänen. Es gilt, das Break-even-Management zu verfeinern, also gegebenenfalls rechtzeitig gegenzusteuern, bevor Sie in einen Verlust laufen.“ Und die Aktionäre, die Performance sehen wollen, sind in den vergangenen Jahren sicherlich anspruchsvoller und ungeduldiger geworden.

Für den Topmanager Wolfgang Reitzle ist es ein Unding, dass Deutschland auf dem Feld der Digitalisierung international bereits hinterherläuft. Amerika, China und Indien sind hier führend. In Deutschland werden vielfach noch die traditionellen Technologien angewendet. Wolfgang Reitzle warnt: „Wenn wir nicht aufpassen, entwickeln wir uns in den nächsten zehn, zwanzig Jahren zurück zu einem Pfeil-und-Bogen-Land.“ Es geht seiner Meinung darum, in Deutschland wieder eine Kultur zu schaffen, die Veränderung nicht als Bedrohung, sondern als Chance begreift. Quelle: Bilanz – das deutsche Wirtschaftsmagazin

Von Hans Klumbies