Singularität meint das Streben nach Einzigartigkeit

Singularität meint laut Andreas Reckwitz mehr als Selbstständigkeit und Selbstoptimierung: „Zentral ist ihr das kompliziertere Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist.“ Markant ausgeprägt ist dies in der neuen, der hochqualifizierten Mittelklasse, also in jenem Produkt von Bildungsexpansion und Postindustrialisierung, das zum Leitmilieu der Spätmoderne geworden ist. An alles in der Lebensführung legt man den Maßstab des Besonderen an: wie man wohnt, wie man isst, wohin und wie man reist, wie man den eigenen Körper oder den Freundeskreis gestaltet. Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach gelebt, es wird kuratiert. Das spätmoderne Subjekt performed sein besonderes Selbst vor den anderen, die zum Publikum werden. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Die Spätmoderne ist eine Kultur des Authentischen und Attraktiven

Nur wenn das Selbst authentisch wirkt, ist es attraktiv. Die allgegenwärtigen sozialen Medien mit ihren Profilen sind eine der zentralen Arenen dieser Arbeit an der Besonderheit. Das Subjekt bewegt sich hier auf einem umfassenden sozialen Markt der Attraktivität, auf dem ein Kampf um Sichtbarkeit ausgetragen wird, die nur das ungewöhnlich Erscheinende verspricht. Die Spätmoderne erweist sich so als eine Kultur des Authentischen, die zugleich eine Kultur des Attraktiven ist. Singularisiert werden keineswegs nur Individuen oder Dinge, sondern auch Kollektive.

Formale Organisationen, Volksparteien und der bürokratische Staat existieren natürlich im Hintergrund weiter. Sie sind jedoch zugunsten von partikularistischen und temporären Formen des Sozialen in die Defensive geraten, die mehr Identifikation versprechen. Andreas Reckwitz erklärt: „Diese unterlaufen universale Regeln sowie standardisierte Verfahren und kultivieren stattdessen eine eigene Welt mit eigener Identität.“ Die Singularisierung des Sozialen gilt schließlich auch für jene global zu beobachtenden politischen und subpolitischen Neogemeinschaften.

In der Spätmoderne dominiert die soziale Logik des Einzigartigen

Schließlich verbreiten sich vielerorts neue religiöse, auch fundamentalistische Gemeinschaften, vor allem im Christentum und im Islam, die jenseits der Amtskirchen eine Art religiösen Exzeptionalismus beanspruchen. Der politische Rechtspopulismus, der sich seit der Jahrtausendwende formiert, appelliert in diesem Rahmen an die kulturelle Authentizität des eigenen Volkes und seiner nationalen Kultur. Zugleich und in anderer Weise ist „kulturelle Vielfalt“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum Leitprinzip einer liberalen Gesellschaft und Kulturpolitik geworden.

Andreas Reckwitz vertritt in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ folgende These: „In der Spätmoderne findet ein gesellschaftlicher Strukturwandel statt, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgmeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen.“ Dieses Besondere, das Einzigartige, also das, was als nicht austauschbar und nichtvergleichbar erscheint, umschreibt Andreas Reckwitz mit dem Begriff der Singularität. Leitend für seine Theorie der Spätmoderne und für die Moderne insgesamt ist die Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Von Hans Klumbies