Die Demokratie ist immer erheblichen Gefährdungen ausgesetzt

Wolfgang Merkel macht auf ein kleines Büchlein aufmerksam, dass im Jahr 2004 unter dem Titel „Postdemokratie“ erschienen ist. Der Autor, Colin Crouch, behauptet darin, dass der demokratische Moment, der sich in den USA noch vor und in Westeuropa unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, verschwunden ist. Die entwickelten Länder nähern sich laut Colin Crouch der „Postdemokratie“ an, die viele vordemokratische Züge trägt. Die Wortschöpfung von Colin Crouch hat vor allem in der Bundesrepublik Deutschland eine beachtliche Karriere gemacht. Wolfgang Merkel erläutert: „Sie gehört wie die Krisenrhetorik längst zum Alltag und hat sich zu einem anschwellenden Rauschen verdichtet. Nicht selten mutieren dabei präzise Begriffe zu leeren Worthülsen, normative Vorurteile lösten die werturteilsfreie Analytik ab.“ Professor Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung „Demokratie“ am Wissenschaftszentrum Berlin und lehrt Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin.

Eine Krise markiert den Höhe- oder Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung

Als politisches Ordnungssystem ist die Demokratie laut Wolfgang Merkel zwar normativ ohne überzeugende Alternative, bei genauerer Betrachtung aber immer wieder erheblichen Gefährdungen ausgesetzt. Diese führen seiner Meinung nach aber keineswegs automatisch in eine Systemkrise. Wolfgang Merkel erläutert: „Ob sie sich als Krise der Demokratie manifestieren, hängt von der Handlungs- und Wandlungsfähigkeit demokratischer Institutionen, Verfahren und Kulturen ab.“

Wolfgang Merkel vertritt die These, dass die Allgegenwart des Wortes Krise den analytischen Kern des Begriffs vernebelt, wenn nicht gar verschleißt. Er weist darauf hin, dass in der medizinischen Metaphorik sich eine Krise als Situation begreifen lässt, die den Höhe- oder Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung markiert. Bei der Demokratie würde es sich also in einem solchen Fall um eine schwerwiegende systemische Störung handeln, die den normativen Kernbestand der Herrschaftsordnung, ja ihre Existenz selbst gefährdet.

Wolfgang Merkel stellt drei Gruppen von Demokratietheorien vor

Laut Wolfgang Merkel ist auch der Demokratiebegriff umstritten. Er unterscheidet drei Gruppen von Demokratietheorien: die minimalistische, die mittlere und die maximalistische Theorie. Der realistische Ansatz von Joseph Schumpeter aus dem Jahr 1942 ist der Klassiker des demokratischen Minimalismus. Wolfgang Merkel erklärt: „Für ihn sind Wahlen nicht nur der Kern der Demokratie, sondern diese selbst.“ Vertreter der mittleren Demokratietheorie vertreten die Ansicht, dass freie und allgemeine Wahlen nur dann demokratisch wirkungsvoll sind, wenn sie in gesicherte Bürgerrechte und Gewaltenkontrolle eingebettet sind.

Den Maximalisten unter den Demokratietheoretikern genügt dies noch immer nicht. Sie fordern Politikergebnisse, vor allem soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit, in die Definition der Demokratie, miteinzubeziehen. Als Beispiel für einen frühen Vertreter dieser Schule nennt Wolfgang Merkel den Weimarer Staatsrechtler Herrmann Heller, der von 1891 bis 1933. Wer sich an dem Demokratieverständnis von Joseph Schumpeter orientiert, wird in den entwickelten Demokratien kaum Anzeichen einer Krise erkennen können.

Von Hans Klumbies