Wilhelm Schmid philosophiert über den Sinn der modernen Ehe

Der Sinn der Ehe ist für Wilhelm Schmid nicht mehr aus früheren Vorgaben zu beziehen, vielmehr wird es zur Aufgabe der Beteiligten selbst, ihr Sinn zu verleihen und mit ihr wiederum dem eigenen Leben. Der Sinn der modernen Ehe könnte beispielsweise darin liegen, im Anderssein, das einer für den anderen ist, eine größere Spannweite des Lebens zu erfahren, wobei man sich wechselseitig eine immer neue Quelle der Kraft sein kann. Eine Ehe kann auch eine Schutzfunktion erfüllen, indem eine Ehepartner mit seinen Stärken die Schwächen des Anderen abschirmt oder ein Ansporn, um sich weiterzuentwickeln und Dinge gemeinsam zu verwirklichen.  Wilhelm Schmid lebt als freier Autor in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt.

Romantik und Pragmatik spielen in der vernünfigen Liebesehe eine gleichbedeutende Rolle

Die moderne Ehe kann aber noch viel mehr sein: „Ein Ärgernis, um negative Energien beieinander loszuwerden, ein Anlass zu Auseinandersetzungen, die den eigenen Kern berühren und ihn damit spürbar machen, eine frei gewählte Schicksalsgemeinschaft, um den Weg durchs Leben nicht allein zu gehen.“ In der heutigen Zeit ihrer größten Gefährdung wird die Ehe laut Wilhelm Schmid endgültig zur gewagten Lebensform, zum Experiment, befreit von den Vorgaben der Religion, der Tradition, der Konvention und der Natur, die den Menschen die Fortpflanzung auferlegt hat.

Wilhelm Schmid stellt das Experiment der pragmatischen Romantik vor, das für die Lebensform der Ehe bedeutet, auf gefühlvolle Anteile nicht zu verzichten, aber die Einrichtung des Lebens, auf die es im Alltag ankommt, eher der nüchternen Überlegung anzuvertrauen. Wilhelm Schmid erläutert: „Die Romantik ist der Reiz der Ehe, der nicht verlorengehen soll, aber die Pragmatik sichert die Vorraussetzungen dafür und verleiht dem freien Zusammensein festere Formen.“

Eine leidenschaftliche Ehe ist geprägt von den Licht- und Schattenseiten heftigster Gefühle

Mehr als je zuvor können Menschen sich in der heutigen Zeit daranmachen, die möglichen Formen der Ehe zu erkunden. Gefragt sind Ideen, sodann aber auch deren Erprobung, denn nur in der Praxis zeigen sich ihre Stärken und Schwächen. Auch aus einem Scheitern lernen die Menschen viel über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Lebens und der Liebe sowie des eigenen Selbst im Umgang mit anderen. Nur im Experiment können Menschen ihre besondere Form der Ehe finden, wobei sie auch aus anderen Arten von Beziehungen hierfür Elemente übernehmen können.

Eine funktionierende Ehe schafft immer wieder einen Ausgleich zwischen Gemeinsamkeiten und der immer neuen Besinnung des Einzelnen auf sich selbst, zwischen widersprüchlichen Gefühlen und wechselnden Phasen einer aufflammenden Leidenschaft, zwischen ruhiger Freundschaft und gelegentlicher Konfrontation. Eine weitere Möglichkeit der Ehe bleibt nach wie vor auch weiterhin die leidenschaftliche Ehe, mit den Licht- und Schattenseiten heftigster Gefühle. Wer eine solche Liaison versucht, muss ihr Scheitern billigend in Kauf nehmen. Dennoch sollte man auf eine so wertvolle Erfahrung nicht verzichten.

Von Hans Klumbies