Die antike Tradition begriff das Denken selbst noch als Begehren

Für Sokrates war Denken ein Akt der Zeugung, vollzogen im gemeinsamen, lebendigen Gespräch. Svenja Flaßpöhler, Stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins, stellt die Frage, was aus dem Eros im digitalen Informationszeitalter wird. Der Eros wird im Deutschen mit Liebe oder Verlangen gleichgesetzt und dadurch charakterisiert, dass der erotisch Liebende mit großer Heftigkeit für sich die Erlangung des Liebesobjekts oder die Vereinigung mit diesem anstrebt. Bei dem Objekt des Eros muss es sich nicht um einen Menschen handeln – es kann beispielsweise für einen Philosophen auch etwas rein Geistiges wie eine Idee oder Tugend sein. Die Unterstützung und auch der Ersatz der eigenen Denkkraft durch Daten bedeutet für Sonja Flaßpöhler durchaus nicht einfach Fortschritt im Sinne einer wundervollen Optimierung von Denkprozessen. Diese Veränderung ist ihrer Meinung nach viel grundsätzlicher und auch bedenklicher.

Sokrates steht wie kein Zweiter für die Liebe zur Weisheit

Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski umschreibt das Verlangen nach Information mit dem Begriff „Datalove“. Diese vollzieht einen höchst folgenreichen Bruch mit einer wirkmächtigen, antiken Tradition, die das Denken selbst noch als Begehren begriff und damit den Kern der Philosophia, der Liebe zur Weisheit, bildet. Svenja Flaßpöhler fügt hinzu: „Sokrates steht wie keine Zweiter für diese Liebe: Eros, so gibt Sokrates im „Gastmahl“ wieder, was einst seine Lehrerin Diotima ihn lehrte, ist ein unvollkommener Gott, weil er das Gute nicht besitzt, sondern sich vielmehr nach ihm sehnt.“

Auch Sokrates ist sich dessen bewusst, dass er einen Mangel in sich trägt und den Pfad der Erkenntnis niemals allein bestreiten kann: Bräuchte er sonst Diotima für seine Lobrede auf den Eros? Laut Sonja Flaßpöhler ist der Ursprung und die bleibende Triebkraft des Denkens, das zeigt die dialogische Praxis des sokratischen Philosophierens, gerade das Nichtwissen. Die Wissenden, das sind die von Sokrates verachteten Sophisten, die ihre vermeintliche Weisheit nie infrage stellen. Seine Aufgabe als Philosoph sieht Sokrates mithin darin, derartige Gewissheiten aufzulösen, ohne sie durch eigene zu ersetzen.

An die Stelle des Mythos ist die Aufklärung getreten

Die heutige Wissensgesellschaft ersetzt das Suchen durch das Finden, das Nichtwissen durch das Wissen. An die Stelle des sokratischen Grundsatzes: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, tritt das Ideal ständiger Datenverfügbarkeit: „Ich weiß, dass Google es weiß.“ Der Eros, der Sokrates antrieb, war ein großer Dämon, ein Wesen zwischen Gott und Mensch, der die Menschen im Wachen oder im Schlaf heimsucht, um, einem Priester oder Propheten gleichend, göttliche Botschaften aus dem Reich der Transzendenz einzuflüstern.

Der vom Eros beseelte Mensch blickt über die reine Sinnenwelt hinaus, er sieht, was sonst niemand sieht, spekuliert und fantasiert und genau darin liegt seine visionäre Kraft. Svenja Flaßpöhler kritisiert: „Diese Erotik eines die Grenzen der Rationalität überschreitenden Denkens ist durch dem modernen Vermessungswillen zunehmend einem pornografischen Datenfetisch gewichen. An die Stelle des Mythos ist die Aufklärung, an die Stelle des Rätsels die Zahl, an die Stelle der Frage der Fakt getreten, und: an die Stelle der Erotik die Autoerotik.“ Quelle: Philosophie Magazin

Von Hans Klumbies