Der Liberalismus wollte die Kultur außerhalb des Staats ansiedeln. Davon abgesehen wollte er den Staat nicht vernichten, sondern begnügte sich laut Otto Kircheimer damit, in ihm eine seiner ökonomischen Position äquivalente Machtstellung zu erringen. In diesem Kampf, der immer voll Respekt und geheimer Bewunderung für die diesen Staat repräsentierenden Mächte blieb, war die Waffe des Liberalismus die Konstitution. Otto Kirchheimer schreibt: „Der geringe politische Eigengehalt des Liberalismus ließ ihn in Frankreich zweimal dem Machtwillen eines Napoleon unterliegen, während er in Deutschland in vorbismarckscher und Bismarckscher Zeit seine Selbstständigkeit gegenüber der Staatsmacht immer wieder preisgab.“ Die Konstitution und der Rechtsstaatsgedanke überhaupt, in die der Liberalismus laut Otto Kirchheimer ein ihre wahre Bedeutung weit übersteigertes Vertrauen setzte, sollte ihm dazu verhelfen, die herrschenden Adelsschichten auf einen genau festgelegten Tätigkeitsbereich festzulegen.
Die Arbeiterklasse fordert eine echte Demokratie mit politischer Gleichberechtigung
Der letzte Teil des Kampfes zwischen Liberalismus und Staat wurde schon unter dem Nachdrängen, der inzwischen zu einem politischen Faktor gewordenen Arbeiterklasse, geführt. Otto Kirchheimer fügt hinzu: „So kam die Arbeiterklasse durch die gemeinsame Frontstellung gegen den feudalen Halbabsolutismus in nähere Beziehung zum Liberalismus.“ In der Kluft, in die sie notwendigerweise ihre ökonomischen Interessen bringen musste, war der Kampf um politische und weltanschauliche Freiheit ein willkommenes Bindemittel.
Der Kampf um die politische Freiheit, den die liberalen Staatsparteien zur Verwirklichung ihres Herrschaftsanspruchs auf politischem Gebiet führten, war laut Otto Kirchheimer solange relativ ungefährlich, als das Festhalten an einer gemeinsamen nationalen Basis die politische Einheit des Staates gewährleistete. Als sie Arbeiterklasse aber tatkräftig nachdrängte und die politischen Ziele des Liberalismus hinter sich ließ, indem sie eine echte Demokratie mit politischer Gleichberechtigung forderte, war diese gemeinsame Basis nicht mehr vorhanden.
Im 19. Jahrhundert erringt die Demokratie ihren endgültigen Sieg
Damit war zugleich die für eine Demokratie noch viel wesentlichere Wertvoraussetzung verschwunden. Otto Kirchheimer schreibt: „Denn in dem Augenblick, wo ein großer von der politischen Gleichberechtigung nicht ausgeschlossener Volksteil den gemeinsamen Wert nicht mehr als den seinigen anerkennt, mit ihm in Kollision gerät, hat die Demokratie ihre ursprüngliche Bedeutung als in der Teilnahme jedes Einzelnen bestehende Zusammenfassung aller einen gemeinsamen Wert Anerkennenden zum Volk seine Bedeutung verloren.“
Die Geschichte des 19. Jahrhunderts ist für Otto Kirchheimer der Schauplatz des Kampfes und endgültigen Sieges der Demokratie. Dabei ist unter dem Eindruck der erbitterten Auseinandersetzung allerdings vergessen worden danach zu fragen, was der mögliche und stets veränderliche Inhalt der neuen Volksherrschaft sei. Hinter dem Begriff Demokratie verbergen sich bestimmte Vorstellungen sozialer Homogenität. Außerdem gehört zu den konstituierenden Merkmalen der Wertdemokratie keine a priori bestimmte, sondern lediglich über die rein politische Gleichberechtigung hinauszielende Werteinheit.
Kurzbiographie: Otto Kirchheimer
Otto Kirchheimer, geboren am 11. November 1905 in Heilbronn, gestorben am 22. November 1965 in New York, war Professor für Politische Wissenschaften an der Columbia University. Er studierte Jurisprudenz und Soziologie in München, Köln, Berlin und Bonn. Von 1934 bis 1942 war er Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in Paris und New York. Otto Kirchheimer gehört zu den bedeutendsten Staats- und Verfassungstheoretiker deutscher Sprache. Zu seinen wichtigsten Werken zählen: „Grenzen der Enteignung“, „Politik und Verfassung“, „Funktionen des Staats und der Verfassung“ sowie „Politische Justiz“.
Von Hans Klumbies