Konrad Paul Liessmann begibt sich auf die Suche nach dem Selbst

Es kann sein, dass jemand nicht nur mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten, seinem Ich-Gefühl und seinem Affekthaushalt unzufrieden ist, sondern mit seinem Selbst insgesamt und es gezielt durch Bildung verändern will. Solch ein Mensch möchte ein Selbst vielleicht erst finden, herausfinden, wer er eigentlich ist, unter Umständen überhaupt ein anderer werden. Konrad Paul Liessmann warnt: „Die Gefahr ist groß, dass dieser Mensch in eine Situation gerät, die man das Kierkegaard-Paradoxon nennen könnte.“ Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat in seinem epochalen Buch „Die Krankheit zum Tode“ die These entfaltet, dass Identitätskrisen prinzipiell die Form der Verzweiflung und der Verzweiflung prinzipiell die Form der Identitätskrise zukommt. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Das Selbst ist eine dynamische Beziehung

Konrad Paul Liessmann erläutert: „Auch wenn man glaubt, man verzweifelt an etwas, verzweifelt man, so Kierkegaard, eigentlich immer an sich selbst.“ Was bedeutet das für die Suche nach einem Selbst? Man kann, so Kierkegaard, verzweifelt sich nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben“, man kann „verzweifelt nicht man selbst sein wollen“, oder man kann „verzweifelt selbst sein wollen“. Sören Kierkegaard demonstriert dies plastisch an jenem Herrschsüchtigen, dessen Losung es ist: entweder Caesar oder gar nichts.

Der Verzweifelnde verzehrt sich selbst auf der Suche nach seinem Selbst. Dies deshalb, weil das Selbst keine Identität ist, sondern eine dynamische Beziehung: ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Bildung kann unter diesen Gesichtspunkten nicht bedeuten, dass diese oder eine andere Form der Selbstveränderung gelingen könnte, ohne die Form der Verzweiflung anzunehmen, sondern Bildung hieße dann bestenfalls die Einsicht, dass Selbstveränderung in einem substanziellen Sinn ohne Verzweiflung nicht möglich ist.“

Viele Menschen möchten ein anderes Lebenskonzept ausprobieren

In diesem Sinne wäre Bildung weniger Motor der Selbstveränderung als die Erkenntnis, dass die Melancholie die Begleiterin aller Formen der Identitätssuche ist. Geht es allerdings darum, nicht nur sein Selbst, sondern sein Leben überhaupt zu ändern, setzt dies einerseits Kriterien voraus, an denen man das Ungenügen desselben misst oder erfährt, andererseits kann es aber nur eine bestimmte Form der Lebensveränderung sein, die durch Bildung – und nicht etwa durch einen Orts-, Partner- oder Berufswechsel – ermöglicht werden soll.

Konrad Paul Liessmann weiß: „Dass es Zeit wäre, sich zu verändern, diese Redewendung markiert ja weniger die Sehnsucht danach, sein Leben radikal durch Bildung umzustellen, als vielmehr den Wunsch, einmal ein anderes Lebenskonzept auszuprobieren.“ Sein Leben zu ändern ist kein Output, den Bildungsprogramme, wie wohlmeinend auch immer, versprechen könnten. Inzwischen gehört es zu den Topoi der Selbstbeschreibung der Moderne, dass eine Gesellschaft ohnehin nur im Modus der Veränderung existieren kann. Quelle: „Bildung als Provokation“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies