Jedes Land hat seine eigenen Klassiker

Was „Klassik“ in der Literatur eigentlich ist, lässt sich nicht eindeutig festlegen. Zum einen ist sie verstanden worden als ein von Ausnahmekünstlern, von Genies geschaffenes überzeitliches Kunst- und Lebensideal, als Norm und Vorbild schlechthin, aus entschwundener Vergangenheit leuchtend und in die Zukunft weisend. So etwa begriffen von der Renaissance bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Humanisten das Klassische und hatten dabei als historische Ausformung stets nur einen Kulturraum vor Augen: die Antike – besonders die perikleische Glanzzeit Griechenlands im 5. Jahrhundert v. Chr. und die augusteische Blütezeit Roms um Christi Geburt. Die Tatsache jedoch, dass darüber hinaus die Italiener schon frühzeitig das 15. Jahrhundert (Leonardo da Vinci, Raffael), die Engländer und Spanier das 16. Jahrhundert (Shakespeare, Cervantes), die Franzosen das 17. Jahrhundert (Corneille, Molière, Racine) und schließlich die Deutschen die Goethezeit als die Epoche ihrer Klassik bezeichneten, zeigt ein verändertes Klassikverständnis an, das auch im Zusammenhang mit der Herausbildung moderner Nationalstaaten gesehen werden muss.

Klassik kann zum Mythos und zur Legende werden

Im Klassischen drückt sich nun neben dem universalen humanistischen Element auch das besondere Moment nationaler Identität aus. Letzteres ist so modern, dass nicht nur antike und neuzeitliche Klassik, sondern auch die neuzeitliche Klassik in ihren nationalen Ausformungen durchaus verschieden erscheint. Hier setzten die Unterschiede in der Auffassung ein, wie an der Diskussion um die „deutsche Klassik“ besonders deutlich wird. Den einen ist Klassik einer von zwei Polen (gegenüber dem Barocken, Romantischen, Modernen), den anderen ist sie die Synthese zweier Gegensätze (z.B. des Antiken und Modernen, des Weltbürgerlichen und Nationalen der Natur und des Geistes).

Für die einen kann Klassik als Erbe lebendig fortwirken, als gegenwartsbewusste Erinnerung an erreichte Maßstäbe und Werke von Vollendung. Hier gibt die Wirkungsgeschichte von Johann Wolfgang von Goethes für das 19. und 20. Jahrhundert das wohl neben Homer und William Shakespeare einzigartige Beispiel. Klassik kann aber auch als Übermacht des schlechthin Gültigen erdrückend werden, marmorn und kalt wirken, Veränderung behindern, im Klassischen erstarren und zum Mythos und Legende werden.

Klassische Schriftsteller standen einer Hauptmasse von „Trivialliteratur“ gegenüber

Kurz vor Johann Wolfgang von Goethes Tod hat Heinrich Heine mit der Bezeichnung „Kunstperiode“ zum Ausdruck gebracht, dass die zurückliegende Phase der deutschen Literatur- und Geistesentwicklung seit 1780, die für ihn vor allem mit dem Leben und Werk Johann Wolfgang von Goethes verbunden war und deswegen mit dessen Tod auch abgeschlossen sein würde, als Einheit aufzufassen sei. Diese Einschätzung wurde, weit über den Vormärz hinaus, von vielen geteilt: Literaturhistoriker ließen zum Beispiel ihre Darstellungen der deutschen Literaturgeschichte mit dem Jahr 1832 enden.

Modern“ war nun die Literatur nach Johann Wolfgang von Goethe. Während diese umstritten blieb, wurden die Werke bestimmter „klassischer“ Autoren der Goethezeit vereinzelt seit den 1830er Jahren, vor allem aber ab 1850 immer mehr kanonisiert – damit einher ging die Nichtanerkennung aller übrigen, den Maßstäben klassischer Schriftsteller nicht genügender Literatur als „Trivialliteratur“, so dass eine Minderzahl von „hoher“ Literatur, die die literarische Tradition bildete, einer Hauptmasse von geschichtsloser, populärer „niederer“ Literatur gegenüberstand. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies