Im Rückblick wundert sich Hans-Peter Schwarz, wie wohlgetrost Europa bis vor kurzem zur Kenntnis genommen hat, was sich im Orient und in Afrika zusammenbraute. Tatsächlich grenzte die Europäische Union (EU) schon im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts an manifeste oder zumindest potentielle Krisenzonen, in denen eine demographische Zeitbombe tickte und große Länder beinahe unwiderstehlich ins Chaos glitten. Hans-Peter Schwarz erklärt: „Man nahm die Unruhe zwar durchaus zur Kenntnis und urteilte von hoher moralischer Warte über das Vorgehen der Amerikaner, über ihre Verbündeten und über die Tragödien jenseits der europäischen Grenzen.“ Hilfsorganisationen und zahlreiche einzelne Helfer zogen aus, um in den Krisenregionen praktisch Hilfe zu leisten. Dass sich aber Millionen von Entwurzelten aufmachen könnten, um in Europa Schutz zu suchen, hatten weder die Bürger Europas noch ihre Regierungen auf dem Radar. Hans-Peter Schwarz zählt zu den angesehensten Politologen und Zeithistorikern in Deutschland.
Der Nahe Osten löst sich auf
Am kritischsten schien die Lage in Afrika. Dort war seit Beginn des 21. Jahrhunderts zu beobachten, dass bereits Millionen verzweifelter Flüchtlinge in den weiten Regionen des von arbeitslosen jungen Menschen übervölkerten und von ethnischen Konflikten zerrissenen Kontinents herumirrten. Süd-Süd-Wanderungen, so erläuterte der Migrationsexperte Steffen Angenendt anhand der UN-Statistiken, machten im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ein Drittel der gesamten globalen Migrationsbewegung aus.
Allein in den unterentwickelten Ländern Afrikas wurden bereits 17 Millionen Migranten und Flüchtlinge registriert. Neben den unruhigen Kriegs- und Elendszonen in Afrika (Somalia, Sudan, Tschad) sind dann innerhalb kürzester Zeit im Nahen und Mittleren Osten, aber auch im Mittelmeerraum weitere Chaosregionen entstanden. „Die Auflösung des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen“, resümierte Volker Perthes, Direktor der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, in der Rückschau und in der Erwartung noch schlimmerer Entwicklungen den Vorgang.
Der muslimische Krisenbogen befindet sich in einer Modernisierungskrise
Hans-Peter Schwarz erläutert: „Mit der unscharfen Bezeichnung Naher Osten war ein Großraum gemeint, der sich von der Türkei und Syrien über den Irak bis nach Afghanistan und Pakistan erstreckt. In westlicher Richtung breiten sich die Krisengebiete an den Süd- und Ostküsten des Mittelmeers aus. Manche Experten nennen die Zonen von Casablanca bis Karatschi und Kabul den muslimischen Krisenbogen.“ In einem Punkt sich alle Forscher einig: Die Gesellschaften in diesem Großraum befinden sich seit langem in einer Modernisierungskrise.
Optimisten sprechen von einem Aufholprozess gegenüber Europa, der in den reichen Ländern am Persischen Golf und zeitweilig auch in Libyen zu einer Art von arabischen Wirtschaftswunder geführt hat. Pessimisten verweisen auf die immer noch weit verbreitete technologische und kulturelle Rückständigkeit in anderen Ländern der muslimischen Welt, die ein Vorankommen verhindert. Diesen labilen Großraum haben die westlichen Interventionen in Afghanistan, im Irak sowie zu guter Letzt in Libyen weiter erschüttert. Quelle: „Die neue Völkerwanderung nach Europa“ von Hans-Peter Schwarz