Nicht alle Leben sind gleich wertvoll

Gewaltlosigkeit ist eine ethische Frage im Kraftfeld der Gewalt. Am besten lässt sich Gewaltlosigkeit vielleicht als Widerstandspraxis beschreiben. Diese ist eben in dem Moment möglich, wenn nicht gar erforderlich, in dem die Ausübung von Gewalt am meisten gerechtfertigt und offensichtlich scheint. Judith Butler stellt fest: „So lässt sich Gewaltlosigkeit als Praxis verstehen, die nicht nur einem gewaltsamen Akt oder Prozess Einhalt gebietet, sondern selbst nachhaltiges – und möglicherweise durchaus aggressiv durchsetztes – Handeln erfordert.“ Judith Butlers Auffassung nach lässt sich also Gewaltlosigkeit nicht einfach als Abwesenheit von Gewalt oder als Enthaltung von Gewalt begreifen. Vielmehr muss man sie als anhaltendes Engagement, ja als Umlenkung von Aggression zum Zweck der Verteidigung der Ideale von Gleichheit und Freiheit verstehen. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

Es gibt eine aggressive Gewaltlosigkeit

Judith Butler möchte zunächst davon ausgehen, dass der „militante Pazifismus“ (Albert Einstein) sich auch als aggressive Gewaltlosigkeit denken lässt. Hierzu muss man die Beziehung zwischen Aggression und Gewalt neu durchdenken, da beide nicht identisch sind. Zweitens möchte Judith Butler davon ausgehen, dass Gewaltlosigkeit ohne eine Verpflichtung auf Gleichheit sinnlos ist. Widerstand gegen die Gewalt gegen menschliches – oder anderes – Leben geht vom Wert dieses Lebens aus.

Manchmal gehen Leben durch Gewaltanwendung verloren. Diesen Verlust nimmt man als solchen nur wahr, wenn das betreffende Leben als wertvoll galt. Und das wiederum bedeutet, dass man es als der Trauer wert betrachtet. Judith Butler erklärt: „Und doch gelten unterschiedliche Leben in dieser Welt, wie wir wissen, nicht als gleich wertvoll. Ihr Anspruch auf Schutz vor Verletzung oder Vernichtung wird nicht immer anerkannt.“ Ein Grund liegt darin, dass bestimmte Leben als nicht der Trauer wert oder als nicht betrauerbar gelten.

Aggression ist ein Bestandteil sozialer Bindungen

Viele Menschen leben von Tag zu Tag mit dem Wissen um namenlose Gruppen von Menschen, die man dem Tod überlässt. Das geschieht an geschlossenen Grenzen, im Mittelmeer, in Ländern die von Armut und einem Mangel an Lebensmitteln und medizinischer Behandlung überwältigt sind. Wenn man begreifen will, was Gewaltlosigkeit heute, in dieser Welt, in der wir leben, bedeutet, muss man die Funktionsweisen der Gewalt kennen, gegen die man sich wenden will.

Aber man muss auch grundlegende Fragen der Gegenwart neu stellen: Was verleiht einem Leben Wert? Warum werden Leben unterschiedlich gewertet? Und wie kann man zu einem Widerstand gelangen, der zugleich wachsam und hoffnungsvoll ist? Judith Butler geht davon aus, dass Aggression ein Bestandteil sozialer Bindungen ist, die auf Interdependenzen basieren. Wobei jedoch die genaue Form dieser Aggression entscheidend für eine Praxis ist, die sich der Gewalt widersetzt. Dadurch eröffnet sie den Horizont einer neuen sozialen Gleichheit. Quelle: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ von Judith Butler

Von Hans Klumbies