Buddhist sein heißt für José Ortega Y Gasset, von vornherein zu glauben, dass in einer Welt bloßer Erscheinungen existieren heißt, in Wirklichkeit nicht wahrhaft da zu sein. Die wirkliche Existenz besteht für einen Buddhisten nicht darin, ein Mensch innerhalb des Universums zu sein, sondern darin, mit dem Weltall zu verschmelzen, in ihm sozusagen aufzugehen. Er strebt also danach nicht zu leben, oder so wenig wie möglich zu existieren. So beschränkt er beispielsweise seine Ernährung auf ein Mindestmaß. Außerdem strebt er nach einem Höchstmaß von Regungslosigkeit, um sich in die Meditation zu versenken, das einzige Mittel, das dem Menschen gestattet, in Ekstase zu gelangen, das heißt in ein Leben außerhalb der Welt zu versetzen.
Ein Buddhist ist die leibhaftige Verneinung der Natur
Laut José Ortega Y Gasset ist ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Buddhist, der keine Neigung zur Bewegung verspürt, das Auto erfindet. Dennoch hat der Buddhismus auch seine guten Seiten wie der spanische Philosoph erklärt: „Dagegen gehen auf ihn alle uns Europäern so fremde Techniken zurück wie die der Fakire und Yogas, Techniken der Ekstase, Techniken, die in der materiellen Welt nicht zu Reformen führen, wohl aber im Körper und der Psyche des Menschen.“ Dazu zählen auch die Techniken der Unempfindlichkeit und der Katalepsie, der Sammlung und so weiter.
Für José Ortega Y Gasset ist es augenscheinlich, dass die Existenz als Meditierender und Ekstatiker, dass ein Leben als Nichtleben, als ständige Bemühung, die Welt und selbst die Existenz aufzuheben, keine natürliche Seinsweise ist. Er schreibt: „Buddhist sein heißt im Grunde nicht essen, sich nicht bewegen, keinen Geschlechtstrieb haben, weder Freude noch Schmerz empfinden; kurzum: die leibhaftige Verneinung der Natur.“ Der Buddhismus ist deshalb ein drastisches Beispiel der Außernatürlichkeit des Menschwesens und der Schwierigkeit, die seine Verwirklichung in der Natur darstellt.
Im Buddhismus muss sich der Mensch durch Meditation und Gebet selbst retten
In früheren Zeiten erleichterten das Klima und der Boden in Indien das Leben so erheblich, dass sich die Menschen laut José Ortega Y Gasset kaum bewegen und zu ernähren brauchten. Wenn allerdings der Boden und das Klima für die buddhistische Lebensweise verantwortlich sein sollen, ist es nicht zu verstehen, warum heute der Buddhismus in der Hauptsache auf tibetischem Boden blüht. Denn das Klima und der Boden Tibets sind ja das genaue Gegenteil vom Tal des Ganges oder Ceylon.
Der spanische Philosoph erklärt: „Der Buddhismus ist in weit größerem Ausmaß als irgendeine andere Religion Sache der Meditation. Im Buddhismus gibt es keinen Gott, der sich der Rettung des Menschen annimmt. Der Mensch muss sich mittels Meditation und Gebet selbst retten.“ Aber wie sollten die Mönche im rauen Tibet meditieren. Sie mussten also wetterfeste Klöster bauen, die ersten Gebäude, die es jemals dort gab. Nicht nur, um einfach darin zu leben, entstand in Tibet das Haus, sondern um darin zu beten. Die Klöster entwickelten sich mit der Zeit in wehrhafte Burganlagen und schufen den tibetischen Staat.
Von Hans Klumbies