Henri Lefebvre begibt sich auf eine Zeitreise durch die Modernität

Lange schon steht das „Moderne“ dem „Alten“ als Gegensatz gegenüber. Henri Lefebvre legt zur Frage „Was ist Modernität?“ eine Studie zur Geschichte der Bedeutungen des Begriffs „modern“ vor. Im Mittelalter hießen die gewählten und kooptierten Ratsmitglieder sowohl in den Städten mit Schöffenamt als auch in denen mit Konsuln die „Modernen“. Zur Unterscheidung nannten sich die, deren Mandat verfiel, die „Alten“. Im Begriff „Moderne“ waren laut Henri Lefebvre zwei Vorstellungen verschmolzen: die einer Erneuerung sowie die einer Regularität in der Erneuerung. Diese Vorstellung einer kreisläufigen Regelmäßigkeit im Wandel und einer Norm des Wandels tritt seiner Meinung nach jedoch bald in den Hintergrund. Der Terminus taucht nun in den verschiedensten Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens auf, vorab in der Kultur, allerdings durchweg mit einem polemischen Sinn behaftet.

Vor allem die Musik brachte eine avantgardistische Aktivität hervor

Henri Lefebvre nennt ein Beispiel: Vom Ausgang des Mittelalters, also von dem Augenblick ab, da Kunst und Denken sich zur Renaissance der Antike proklamierten, wird der Ausdruck „moderne Musik“ in Opposition zu dem der veralteten Musik geltend gemacht. Dies geschieht, weil die Musik bereits in Bewegung geraten war, eine avantgardistische Aktivität hervorbrachte und sich in einen Sektor verwandelt hatte, die Innovationen hervorbrachte. Henri Lefebvre erläutert: „Neuartige Techniken und Forschungen formierten in ihr seit jener Epoche eine aggressive Modernität.“

Die Ideen und Situationen werden im Laufe der Zeit komplizierter. Wer in dem einen Bereich modern sein will, erweist sich in einem anderen möglicherweise als unmodern. Später verwischt sich laut Henri Lefebvre der polemische Sinn, ohne jedoch völlig zu verschwinden. Es ordnet sich vielmehr der Selbstexaltation des Modernismus und des modernen Geschmacks unter. Der Modernismus, das heißt der Kult des Neuen für das Neue, gewinnt mit dem „modern style“ im ausgehenden 19. Jahrhundert klare Konturen.

Charles Baudelaire erkennt im Modernen das Flüchtige und Vergängliche

Bei Karl Marx bezeichnet der Begriff „modern“, den er häufig gebrauchte, den Aufstieg der Bourgeoisie, das ökonomische Wachstum, die Etablierung des Kapitalismus und die damit verbundenen politischen Rückwirkungen. Dieser Begriff der Modernität, wie ihn Karl Marx verwendet, ist zwar in seinem Kern, aber nicht gänzlich politisch. Henri Lefebvre erklärt: „Er bezeichnet eine Form des Staates: den über der Gesellschaft errichteten Staat, freilich auch das Verhältnis dieser Form zum Alltagsleben wie zur gesellschaftlichen Praxis im Allgemeinen.“

Jene Staatsform ist bei Karl Marx definiert als eine, die das Alltagsleben vom gesellschaftlichen und politischen Leben trennt. Als weiteren Zeugen der Modernität zieht Henri Lefebvre den französischen Dichter Charles Baudelaire heran, denn dieser bringt seiner Meinung nach in das Bewusstsein des Neuen etwas grandios Neues ein. Für Charles Baudelaire ist das Moderne das Ephemere, das Flüchtige. In seinen Augen bilden das Ephemere, das Vergängliche, die Mode und das Mondäne das Gegenteil des Ewigen in der menschlichen Dualität.

Kurzbiographie: Henri Lefebvre

Henri Lefebvre, der von 1901 bis 1991 lebte, war ein marxistischer Soziologe, Intellektueller und Philosoph. Lage bevor es Mode wurde, die Probleme des Alltagslebens auch für die Theorie der Philosophie, Soziologie und Ästhetik zu reklamieren, hat Henri Lefebvre die Dialektik zwischen Überbau – Kultur, Wissenschaften, Recht, Religion – und der Alltagswelt der Menschen zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung gemacht.

Eine der aufschlussreichsten Arbeiten auf diesem Gebiet ist sein Buch „Einführung in die Modernität“ indem er Ideen, Symbole, menschliche Ausdrucksweisen und Einstellungen betrachtet, die das mitkonstituiert haben, was heute moderne Gesellschaft heißt. Henri Lefebvre zeigt einen Zusammenhang zwischen Handlungen und Problemen auf, in dem die Menschen sich wiedererkennen und der die Findung ihrer Identität ebenso wie ihre Deutung der Welt bestimmt.

Von Hans Klumbies