Ernst Fraenkel definiert die Repräsentation des Volkes wie folgt: „Repräsentation ist die rechtlich autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen durch verfassungsmäßig bestellte, im Namen des Volkes, jedoch ohne dessen bindenden Auftrag handelnde Organe eines Staates oder sonstigen Trägers öffentlicher Gewalt, die ihre Autorität mittelbar oder unmittelbar vom Volk ableiten und mit dem Anspruch legitimieren, dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen und dergestalt dessen wahren Willen zu vollziehen.“ Ein idealtypisches repräsentatives Regierungssystem geht laut Ernst Fraenkel von der These eines vorgegebenen und objektiv feststellbaren Gesamtinteresses und der Hypothese aus, dass der Wille des Volkes auf die Förderung des Gesamtinteresses gerichtet sei. Man nennt dies den hypothetischen Volkswillen. In der politischen Realität allerdings ist jedes Repräsentativsystem bestrebt, den Ansichten der Volksmehrheit Rechnung zu tragen, soweit sich dies mit der Förderung des Gemeinwohls in Einklang bringen lässt.
Das stellt den politischen Überbau einer Gesellschaft dar
Die Aufgabe einer Repräsentationsverfassung ist es somit, die Verwirklichung des Volkswillens optimal zu ermöglichen, mit der Vorgabe, dass es bei einem Widerstreit zwischen hypothetischen und empirischen Volkswillen, dem hypothetischen Volkswillen der Vorzug zu gewähren ist. In der Regel bekennen sich die Verfechter des Repräsentationsgedankens auch zu den Grundsätzen der Volkssouveränität. Darüber hinaus sind sie bestrebt, den Minderheiten und den Interessen des Einzelnen ein Maximum von Rechtssicherheit und Einflussmöglichkeit zu gewähren.
Die ideologische Basis des Repräsentativsystems ist die Einsicht in die Differenzierung des Staatsvolks. Soziologisch stellt es laut Ernst Fraenkel den politischen Überbau einer Gesellschaft dar, die sich ihres politischen Charakters bewusst ist. Bis Ende des 18. Jahrhunderts repräsentierte ein Parlament privilegierte Interessen, die zwecks Geltendmachung ihres privilegierten Status das Recht auf Repräsentation beanspruchten. Die Redewendung „ein demokratisches Parlament“ stellte deshalb damals ein Paradoxon da.
Das Repräsentativsystem ist auf die Gemeinschaft ausgerichtet
Ernst Fraenkel schreibt: „Ein idealtypisches repräsentatives Regierungssystem geht von der stillschweigenden Voraussetzung eines einheitlichen Volkswillens aus, von dem a priori angenommen wird, dass er mit dem Gesamtinteresse identisch sein.“ Deshalb erblickt er in den Interessen von Minderheiten Störungsfaktoren, die, weil sie die Bildung des einheitlichen Volkswillens zu verhindern imstande sind, entweder negiert oder eliminiert oder durch Verweisung in den apolitischen Raum neutralisiert werden sollten.
Im Gegensatz zu dem aus einer Interessenvertretung erwachsenen und daher am Leitbild der Gesellschaft ausgerichteten Repräsentativsystem ist das aus der Versammlung aller Aktivbürger erwachsene plebiszitäre Regierungssystem am Leitbild der Gemeinschaft orientiert. Vom Blickpunkt des plebiszitären Prinzips aus steht jedes Repräsentationsorgan unter der ständigen Gefahr, eine politische Selbstentfremdung des Volkes herbeizuführen und zu vertiefen.
Kurzbiographie: Ernst Fraenkel
Ernst Fraenkel, geboren 1898, studierte Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main. Er promovierte bei Hugo Sinzheimer. Gemeinsam mit Franz Neumann war er von 1927 bis 1933 Rechtsanwalt in Berlin. Seine Anwaltstätigkeit setzte er nach 1933 unter eingeschränkten Bedingungen in Berlin bis 1938 fort, als er in die USA fliehen musste. Seit 1951 war Ernst Fraenkel Dozent, von 1953 bis 1967 Professor an der Deutschen Hochschule für Politik, dem späteren Otto-Suhr Institut der Freien Universität Berlin. Er ist einer der Mitbegründer der politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Ernst Fraenkel starb 1975 in Berlin.
Von Hans Klumbies