Konrad Paul Liessmann erklärt die Begriffe Schuld und Sühne

Wer heute noch von Schuld und Sühne spricht, macht sich lauf Konrad Paul Liessmann erste einmal verdächtig. Die Begriffe Verbrechen und Strafe verweisen auf die Normen und Gesetze einer Gesellschaft, für deren Übertretung oder Bruch ein abgestuftes System von Sanktionen vorgesehen ist. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Sowohl das, was in einer Gesellschaft als kriminelles Handeln gilt, als auch, wie darauf reagiert werden soll, kann jederzeit modifiziert, umgestoßen, reformiert, neu definiert werden. Vieles, was vor Jahrzehnten noch als Verbrechen, zumindest moralisch anstößig galt, ist heute weitgehend akzeptiert, vieles, was vor Jahrzehnten noch normal war, gilt heute als verwerflich.“ Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Die Pflicht hat ihren Ursprung in der ökonomischen Schuld

Spricht aber jemand von Schuld und Sühne, geht es nicht nur um den Bruch von Gesetzen und die dafür vorgesehenen Sanktionsmöglichkeiten. Bei Schuld geht es für Konrad Paul Liessmann um mehr und anderes als um ein von der Gesellschaft nicht akzeptiertes Verhalten. Unter Schuld versteht man all das, für das man schuldig im Sinne einer Urheberschaft ist. Schuld kann aber auch das bedeuten, was ein Mensch einem anderen schuldet, was dieser, im übertragenen und wörtlichen Sinn, zurückzahlen muss.

Schon Friedrich Nietzsche hatte darauf hingewiesen, dass der Begriff der Pflicht, dass das moralische Sollen seinen Ursprung in der ökonomischen Schuld hat: Jemand hat das Recht, etwas, was er mir gegeben hat, zurückzufordern. Dieser Forderung nachzukommen ist meine Pflicht. Wer Schulden hat, schuldet jemanden etwas, und er lädt weitere Schuld auf sich, wenn er diese Schulden nicht zurückzahlen kann. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Schuld kann aber auch bedeuten, dass wir an jemanden schuldig werden können, indem wir sein Leben oder seine Lebenschancen beeinträchtigen.“

Schuld und Sühne steht im Zusammenhang mit Verantwortung

Schuld kann ein Mensch in mannigfaltiger Art auf sich laden, absichtlich oder unabsichtlich. Und es gehört zu den großen Einsichten der griechischen Tragödie, dass ein Mensch auch schuldlos schuldig werden kann. Letztlich geht es bei der Frage nach der Schuld darum, inwieweit der Mensch als Urheber seiner Handlungen begriffen werden muss, für die er vor anderen und vor sich selbst einstehen muss. Deshalb meint die Sühne laut Konrad Paul Liessmann mehr als die Abgeltung einer Schuld oder die Strafe, die jemanden für ein unerwünschtes Verhalten auferlegt wird.

Konrad Paul Liessmann erklärt: „Sühne steht nicht nur in einer formalen Beziehung zu einer Tat – indem etwa ein angemessener Strafrahmen festgelegt wird –, sondern in einer inhaltlichen: Wie kann, nachdem etwas getan und diese Tat als falsch und verwerflich erkannt wurde, noch reagiert werden?“ Es geht also um die Beantwortung der Frage: „Warum hast du das getan?“ Bei der Frage nach Schuld und Sühne geht es also in einem fundamentalen Sinn um die Frage der Verantwortung. Allerdings unterliegt der Begriff der Verantwortung aktuell einem inflationären Gebrauch.

Von Hans Klumbies