Otto von Bismarck und Bejamin Disraeli erneuern das Wahlrecht

Das gestörte Gleichgewicht der verschiedenen Komponenten des neuzeitlichen deutschen Regierungssystems geht laut Ernst Fraenkel auf die Frühzeit Otto von Bismarcks zurück. Damals wurde dem Parlament zwar ein sachlicher Einfluss auf die Gesetzgebung, aber kein personeller Einfluss auf die Regierung eingeräumt. Daher verkümmerte das Machtstreben der Parteien und gleichzeitig verdichtete sich ihre Tendenz zur Prinzipientreue. Ernst Fraenkel schreibt: „Ihrem weltanschaulichen Charakter entsprechend verlagerten die politischen Parteien ihr Schwergewicht vom Parlament in selbstständige Parteiorganisationen, die Instruktions- und Kontrollfunktionen über die Parlamentsfraktionen ausübten.“ Die Schwäche des Parlaments hatte demnach zwei Ursachen: erstens die zunehmende Macht der Staatsbürokratie und zweitens die sich anbahnende Stärke der Parteibürokratien. Schritt für Schritt mit der zweifach bedingten Entmachtung des Parlaments vollzog sich ein Prozess der Zersetzung der öffentlichen Meinung.

Neu ist die geheime Wahl und die Erweiterung des Stimmrechts

Das Zensuswahlrecht und öffentliche Abstimmungen sind für Ernst Fraenkel Postulate des liberalen Bürgertums, um seine Herrschaft mit Hilfe der öffentlichen Meinung sicherzustellen. Doch das Verhältnis zwischen Parlament und Öffentlichkeit wurde durch die geheime Stimmabgabe noch stärker revolutioniert, als durch die Erweiterung des Stimmrechts. Ernst Fraenkel schreibt: „Die Geheimhaltung der Stimmabgabe ermöglichte es ausreichend starken Gruppenmeinungen, sich nicht nur gegenüber der Staatsgewalt, sondern auch gegenüber der öffentlichen Meinung zur Geltung zu bringen.“

Laut Ernst Fraenkel ist häufig darauf hingewiesen worden, dass Otto von Bismarck und Benjamin Disraeli im gleichen Jahr 1867 einen entscheidenden Schritt zur Ausdehnung des Wahlrechts auf die besitzlosen Klassen vorgenommen haben. Hierbei sollte seiner Meinung nach aber nicht übersehen werden, dass das Wahlrecht von Otto von Bismarck sehr viel radikaler demokratisch war als sie Wahlreform von Benjamin Disraeli. Das zeigt sich schon allein daran, dass das geheime Wahlrecht in England versuchsweise erst im Jahre 1873 eingeführt worden ist.

Die deutschen politischen Parteien präsentierten Besitz und Bildung

Trotz aller Klassenunterschiede war die ständische Abkapslung der verschiedenen Bevölkerungsschichten in England weniger stark ausgeprägt wie in Deutschland. Die deutschen politischen Parteien beanspruchten Besitz und Bildung zu repräsentieren. Deshalb bestand nicht nur ein Misstrauen der besitzlosen Arbeiter gegen die Parteien des Besitzes, sondern auch ein Argwohn der Parteien der Bildung gegen den ungebildeten Tagelöhner. Es war nicht zuletzt Bildungsdünkel, der den Parteien der Bildung verbot, ihre soziale Basis zu erweitern.

Ernst Fraenkel weist darauf hin, dass in Deutschland den arbeitenden Massen nur die Wahl blieb, entweder die Chance, die ihnen das Wahlrecht von 1867 bot, in den Wind zu schlagen oder eine eigene Arbeiterpartei zu gründen. So ist es zu erklärten, dass die deutsche Sozialdemokratie des Kaiserreichs nicht mit, sondern gegen den Strom der öffentlichen Meinung schwamm und den Wertkodex der öffentlichen Meinung wie Nation, Staatsform, Religion und Wirtschaftsverfassung für die Arbeiterschaft als nicht verbindlich erklärte.

Kurzbiographie: Ernst Fraenkel

Ernst Fraenkel, geboren 1898, studierte Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main. Er promovierte bei Hugo Sinzheimer. Gemeinsam mit Franz Neumann war er von 1927 bis 1933 Rechtsanwalt in Berlin. Seine Anwaltstätigkeit setzte er nach 1933 unter eingeschränkten Bedingungen in Berlin bis 1938 fort, als er in die USA fliehen musste. Seit 1951 war Ernst Fraenkel Dozent, von 1953 bis 1967 Professor an der Deutschen Hochschule für Politik, dem späteren Otto-Suhr Institut der Freien Universität Berlin. Er ist einer der Mitbegründer der politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Ernst Fraenkel starb 1975 in Berlin.

Von Hans Klumbies