Heute ist Heimat ein Prozess der Selbstfindung

In früheren Zeiten war er Schicksal, der Ort der eigenen Herkunft, der einen prägte, ob man wollte oder nicht – früher ist Heimat einem Menschen zugestoßen. Heute ist sie ein Prozess der Selbstfindung. Weil die Menschen oft den Wohnort oder den Arbeitsplatz wechseln, weil sich viele in radiale Individualisten verwandelt haben. Und natürlich auch, weil die Welt enger zusammengerückt ist, durch die neuen Völkerwanderungen, den Tourismus, das World Wide Web, weil auch das kleinste Dorf heute globalisiert ist. Lokalzeitungen brachten den Menschen einst ihre Heimat nahe, weshalb sich manche gleich Heimatzeitungen nannten. Der Essayist Christian Schüle schreibt in seinem neuen Buch „Heimat – Ein Phantomschmerz“: „Heute über Heimat zu sprechen heißt vor allem, über ihren Verlust zu reden.“ Das Verschwinden der Heimat ist für ihn ein Problem mit zwei Seiten.

Der Begriff Heimat ist das Losungswort der Gegenwart

Auf der einen Seite gibt es die Flüchtlinge, die ihre Heimat hinter sich lassen mussten, um zu überleben – ihre alte Heimat haben sie verloren, eine neue haben sie noch nicht gefunden. Auf der anderen Seite gibt es die radikalen Individualisten des Westens, die ebenfalls in ständiger Bewegung sind, auf der Suche nach sich selbst, nach ihrer Identität. Christian Schüle schreibt: „Dem realen Verlust der Heimat migrierender Massen steht der geistige Heimatverlust des mobilen Individuums gegenüber. Beide haben ihren Geborgenheitsraum verloren, der eine den physischen, der andere den metaphysischen.“

Diese Situation ist nicht ungefährlich, weil beide Probleme zwar losgelöst voneinander aufgetreten sind, aber nun in Konflikt miteinander geraten. Die Ankunft von Millionen Fremden wirkt die Frage nach dem Eigenen verstärkt auf, der reale Heimatverlust der einen verstärkt den gefühlten Heimatverlust der anderen, zumindest bei einigen von ihnen: den Protestierern der Pegida und den Anhängern der AfD. Christian Schüle versteht unter dem Begriff Heimat das Losungswort der Gegenwart.

Heutzutage wird Heimat vor allem konsumiert

Über Jahrzehnte war der Begriff Heimat in Deutschland vergiftet, er erinnerte an Blut und Boden, Heimatvereine und Heimatmuseum, Trachtengruppen und Volksmusik. Das alles galt als nationalistisch, engstirnig und kleinbürgerlich. Christian Schüle konstatiert heute eine neue Romantisierung von Heimat und Natur als Antwort auf die Entgrenzung des Raums durch die Globalisierung und die Digitalisierung. Der Essayist Christan Schüle stellt fest: „Natur ist in den vergangenen Jahren vom Biotop zum Psychotop geworden.“

Früher konnten die Menschen ihre Heimat nicht umtauschen, heute schon. Denn heutzutage wird Heimat vor allem konsumiert. Heimat, das war einmal Natur, das war das Dorf in Abgrenzung zu der Stadt. Heute ist in manchen Städten mehr Natur als in den Dörfern und wohl auch mehr Heimat. Heute macht sich die Stadt zum Land. Christan Schüle erklärt: „Heimat wird zur Performance von Heimat, indem das Heimatliche inszeniert und geradezu museal ausgestellt wird.“ So sieht Heimat im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit aus. Quelle: Der Spiegel

Von Hans Klumbies

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