Die Entschleunigung ist für Ralf Konersmann eine Illusion

Stress, Burn-out – fast jeder Mensch weiß, was damit gemeint ist. Vor hundert Jahren sprach man eher von Nervosität schreibt Ralf Konersmann in seinem Buch „Wörterbuch der Unruhe“. Auf die Frage, was sich seit früher verändert hat, antwortet Ralf Konersmann: „Die Nervosität wurde eher als kollektives Schicksal erlebt. Mit Nervosität meinte man eher die Atmosphäre der großen Stadt.“ Das Wort Stress steht mehr für einen Rückzug auf den Einzelnen. Stress wird vor allem als private Herausforderung gesehen, für die jeder seine eigenen Lösungen finden muss. Dieses Denken setzt auch voraus, dass Unruhe als eine Normalität behandelt wird. Die Unruhe der Gegenwart unterscheidet sich allerdings grundlegend von der „inquietas“, wie sie Seneca und andere Stoiker beschreiben. Ralf Konersmann ist Professor für Philosophie an der Universität Kiel.

Im Prinzip ist die Welt für die Stoiker in Ordnung

Ralf Konersmann erklärt: „Die Stoiker setzen einen Ort der Sicherheit voraus, auf den der Mensch sich hinbewegen soll – die Grundverfassung des Kosmos. Im Prinzip ist die Welt für die Stoiker in Ordnung.“ In einer solchen Welt kann sich der Mensch zurücknehmen, weil er nicht das Gefühl hat, sich um alles kümmern zu müssen. Er muss nur die Prinzipien dieser Welt besser verstehen, sich auf ihren Rhythmus einschwingen, dann wird er weniger Unbill erleiden. Mit der Welt gehen, statt gegen sie angehen – das ist die große Vision der Stoiker.

In Ratgebern für Gelassenheit stehen die Stoiker hoch im Kurs. Auf die Frage, ob die Menschen Stoiker werden sollen, antwortet Ralf Konersmann: „Ich halt das für ein kolossales Missverständnis. Natürlich will ich niemanden davon abhalten, sich in die Stoiker oder die Mystik des Mittealters zu versenken. Wir können mit viel Anstrengung so ein Leben simulieren, hineinbegeben können wir uns nicht.“ Den heute lebenden Menschen fehlt, was für Denker wie Epiktet, Marc Aurel oder Seneca selbstverständliche Voraussetzung war – so selbstverständlich, dass es gar nicht ausgesprochen werden musste: die Bürgschaft einer grundsätzlich intakten Welt.

In der Neuzeit ist der Mensch für alles verantwortlich

In Blaise Pascal sieht Ralf Konersmann den ersten Denker, der begriffen hat, was Modernisierung heißt, was sie neue metaphysische Obdachlosigkeit bedeutet. Wie verstörend und verwirrend die Neuzeit im Einzelnen auf die Zeitgenossen gewirkt hat, wie tiefste Überzeugungen dabei zunichte wurden – das hat Blaise Pascal in einer Nüchternheit, Klarheit und Strenge beschrieben, die ohne Beispiel ist. Dabei kritisierte er auch seinen Zeitgenossen Montaigne, der entspannter blieb und eine stoische Distanz zur Welt pflegte.

Für Blaise Pascal dagegen ist eine Zeit angebrochen, in der der Mensch für alles verantwortlich ist. Die Unruhe der Neuzeit war mit vielen, teilweise auch eingelösten Freiheitsversprechen verbunden. Dazu zählt die Arbeit, die heute allerdings viele Menschen mit Burn-out bedroht. Ralf Konersmann erläutert: „Genau, das ist eben das Freiheitsproblem, und deswegen ist die Unruhe auch so ambivalent. Wir sind zugleich Enthusiasten und Leidende der Unruhe.“ Die Entschleunigung, der Ausstieg aus der Unruhe, ist für Ralf Konersmann dabei schlicht eine Illusion. Quelle: Die Presse

Von Hans Klumbies