Bei Auguste Rodin bricht die Leidenschaft aus dem Marmor hervor

Der Mann, der für die berühmteste Plastik von Auguste Rodin „Denker“ Modell stand, war kein Intellektueller, sondern der französische Preisboxer Jean Baud, ein Mann aus dem Pariser Rotlichtmilieu, der im Hauptberuf Holzbauer war. Als Thema für seinen Denker hatte Auguste Rodin Dantes göttliche Komödie ausgewählt; sein Denker sollte den Autor Dante Alighieri darstellen. Doch der geniale Bildhauer bricht mit der Tradition des melancholischen, erschlafften Grübler, die sonst die Darstellungen des Denkens in der Kunstgeschichte prägen, und hat auch nichts mit den gelassen auf antiken Treppen lagernden Denkern der Schule von Athen zu tun: Auguste Rodins martialisch, muskulöse, kauernde Gestalt erinnert viele Kunstexperten eher an einen Athleten, der jeden Augenblick lossprinten könnte. Die ganze Figur ist reine Anspannung und Verzerrung und Energie vor dem Aus- und Aufbruch. Mit einer gewaltigen Schau im Grand Palais begehrt Paris den hundertsten Todestag des Bildhauers Auguste Rodin.

Der „Kuss“ zeigt den Übergang von der Reflexion zur Enthemmung

Was fast alle Plastiken Auguste Rodins auszeichnet, ist nicht die zivilisatorisch gebändigte Geschwindigkeit, die „Célérité“, sondern der eher außer Kontrolle geratene Rausch, die „Velocité“, die Raserei und das ihr folgende Verderben – weswegen sein Werk oft als Kritik am Fortschrittsoptimismus interpretiert wurde. Auch „der Kuss“, Auguste Rodins weltweit in Bildern und Kopien verbreiteter Liebes-Laokoon aus zwei Figuren, deren glatte Arme und Beine unentwirrbar ineinander verschlungen sind, bezieht sich auf eine dunkle Geschichte der göttlichen Komödie.

Man sieht Francesca da Rimini in dem Moment, in dem sie Paolo Malatesta, den Bruder ihres Ehemanns umarmt, bevor Letzterer beide tötet. Die Liebenden hatten zuvor die Geschichte von Lancelot und Guinevere gelesen, deshalb hält der Mann in Auguste Rodins „Kuss“ noch das Buch in der Hand. Gezeigt wird also auch hier der Übergang von der Reflexion zur Enthemmung, von der Erzählung eines Mythos zur unmittelbaren Handlung im Hier und Jetzt – genauso wie der Denker von ganz unmittelbaren und unintellektuellen Kräften und Ängsten durchflutet wird.

Auguste Rodin pflegt einen Stil der Plötzlichkeit und überwältigenden Unmittelbarkeit

Man kann all diese Figuren auch als einen Versuch interpretieren, eine jahrhundertealte Erzählung in die Gegenwart zu reißen und so, wie Gotthold Ephraim Lessing einmal sagte, den „garstigen breiten Graben“ zwischen der Überlieferung und dem Jetzt zu überspringen. Waren viele der unvollendeten Figuren Michelangelos, den Auguste Rodin verehrte und dessen Werk er 1875 auf einer Reise nach Italien studiert hatte, dem Zeitmangel geschuldet, machte Auguste Rodin aus dem Unfertigen eine Stil der Plötzlichkeit und überwältigenden Unmittelbarkeit.

Was Auguste Rodin interessiert, ist die Oberfläche als Ort, an dem sich plötzlich innere Bewegungen zeigen, die vom Blut durchströmte Haut, unter der sich Muskeln anspannen oder erschlaffen. Außerdem werden bei ihm die Grenzen zwischen Körper und Umwelt, zwischen gestalteter und ungestalteter Materie, und auch die Geschlechtergrenzen fließend. Und immer setzt Auguste Rodin alles daran, dass die glatten, gespenstisch lebensechten Marmorkörper sozusagen so plötzlich und schockhaft wie die Leidenschaft selbst aus dem rohen Marmor herauszubrechen scheinen. Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung