Die Geschichte erklärt ihre Unabhängigkeit von der Biologie

Die gewaltige Vielfalt der Realitäten, die der Homo sapiens entwickelte, und der enorme Variantenreichtum von Verhaltensweisen, die sich daraus ergab, machen das aus, was die Menschen als Kultur bezeichnen. Nachdem die verschiedenen Kulturen einmal entstanden waren, veränderten und entwickelten sie sich ständig weiter, und diese konstanten Umwälzungen bezeichnet man als Geschichte. Die kognitive Revolution in der Menschheitsentwicklung ist der Moment, an dem die Geschichte ihre Unabhängigkeit von der Biologie erklärt. Yuval Noah Harari betont: „Von diesem Zeitpunkt an wird die Entwicklung der Menschheit nicht mehr durch biologische Theorien erklärt, sondern durch die Geschichtsschreibung.“ Das bedeutet allerdings nicht, dass sich der Homo sapiens und die menschliche Kultur von sämtlichen Gesetzen der Biologie befreit hätten. Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.

Die Unterschiede zwischen dem Menschen und anderen Affenarten sind gering

Selbst der moderne Mensch zählt nach wie vor zu den Tieren und seine Gene geben bis heute den Rahmen für seine körperlichen, geistigen und emotionalen Fähigkeiten vor. Yuval Noah Harari erläutert: „Unsere Gesellschaften bestehen aus denselben Grundbausteinen wie die der Neandertaler oder der Schimpansen, und je genauer wir diese Bausteine – Wahrnehmungen, Emotionen, Familienbande – unter die Lupe nehmen, desto kleiner erscheinen die Unterschiede zwischen uns und anderen Affenarten.“

Der eigentliche Unterschied zwischen den Menschen und den Schimpansen ist für Yuval Noah Harari der geheimnisvolle Kitt, der eine große Zahl von Individuen, Familien und Gruppen zusammenhält. Dieses Bindemittel hat den Menschen zu den Herren der Schöpfung gemacht. Natürlich waren für diesen Erfolg noch ein paar andere Fähigkeiten erforderlich wie zum Beispiel der Gebrauch von Werkzeugen. Doch diese hätten kaum Auswirkungen, wenn die Menschen nicht gleichzeitig in der Lage wären, in großen Gruppen zusammenzuarbeiten.

Die Menschen dürfen nicht bei ihren biologischen Grenzen stehen bleiben

Aus biologischer Sicht hat sich die menschliche Fähigkeit zur Herstellung von Werkzeugen in den vergangenen 30.000 Jahren kaum verändert. Was sich dagegen laut Yuval Noah Harari ganz dramatisch verbesserte, war die Fähigkeit der Menschen, mit großen Gruppen von wildfremden Personen zusammenzuarbeiten. Die Beziehung zwischen Biologie und Geschichte nach der kognitiven Revolution fasst Yuval Noah Harari wie folgt zusammen: „Die Biologie gibt den Rahmen für das Verhalten und die Fähigkeiten des Homo sapiens vor. Die gesamte menschliche Geschichte findet auf diesem von der Biologie definierten Spielfeld statt.“

Zweitens lässt das erstaunlich große Spielfeld der Sapiens eine verblüffende Vielfalt von Spielen zu. Mit Hilfe der fiktiven Sprache erfinden Sapiens immer mehr und komplexere Spiele, die von Generation zu Generation weitergegeben und verbessert werden. Drittens müssen sich die Menschen die geschichtliche Entwicklung ihrer Handlungen ansehen, wenn sie das Verhalten der Sapiens verstehen wollen. Wenn die Menschen bei ihren biologischen Grenzen stehen bleiben würden, dann wäre das etwa so, wenn ein Sportreporter seinen Zuhörern nur den Rasen beschreiben und kein Wort über das darauf stattfindende Spiel verlieren würde.

Von Hans Klumbies