Friedrich Nietzsche schaut nicht zurück

Es gibt Menschen, für deren Selbstentwurf die Zukunft wichtiger ist als die Vergangenheit. Diese Personen fragen nicht danach, was war. Stattdessen interessieren sie sich dafür, was werden wird und werden soll. Svenja Flaßpöhler gehört eher zu jenen, die zurückschauen, sich erinnern, das Gewesene immer wieder von allen Seiten betrachtet. Friedrich Nietzsche hätte sie für ihre Rückwärtsgewandtheit vermutlich verachtet. Svenja Flaßpöhler stellt sich die Frage, ob es nicht sein könnte, dass nur, wer sich ausreichend erinnert, im guten, ja tiefen Sinne vergessen und also verzeihen kann. Genau dieser Ansicht ist der französische Philosoph Paul Ricoeur, ein stark an Sigmund Freud orientierter Denker. Dr. Svenja Flaßpöhler ist seit Dezember 2016 leitende Redakteurin im Ressort Literatur und Geisteswissenschaften beim Sender „Deutschlandradio Kultur“.

Das Verzeihen ist aktives Vergessen

Paul Ricoeur schreibt in seinem Buch „Das Rätsel der Vergangenheit“: „Das Verzeihen ist zunächst einmal das Gegenteil des passiven Vergessens, und zwar in seiner traumatischen Gestalt ebenso wie dem hinterhältigen Aspekt des eskapistischen Vergessens nach. Insofern verlangt es einen zusätzlichen Aufwand an Erinnerungsarbeit.“ Wie Friedrich Nietzsche betont auch Paul Ricoeur die Tugend des aktiven Vergessens, doch begreift er dieses Vergessen gerade als Resultat intensiven Erinnerns.

„Erinnerungsarbeit“ ist ein Sigmund Freud’scher Terminus, der die Tätigkeit des Analysanden während eine psychoanalytischen Sitzung beschreibt. Diese Tätigkeit besteht nicht nur darin, dass der Analysand sich erinnert, das heißt, sich das Verdrängte bewusst macht; vielmehr muss er mit dem Analytiker das Gewesene „wiederholen“ und „durcharbeiten“. Sigmund Freud nennt diese Interaktion „Übertragung“: Der Analytiker wird gleichsam zur Projektionsfläche, die aus der Kindheit stammenden Gefühle werden an ihm ausagiert.

Hegel begreift das Verzeihen als Versöhnung

Svenja Flaßpöhler erklärt: „Durch die Übertragung löst der Analysand sich langsam von seinen Affekten – und, so lässt sich hinzufügen: Er löst sich auch von jenen Menschen, die der Grund dieser Affekte waren.“ An dieser Stelle zeigt sich, warum das Verzeihen für Sigmund Freud selbst im Grunde nie ein Thema war: Wenn der Analysand die Beziehungen zu Vater und Mutter nur genügend durchgearbeitet hat, wir irrelevant, wie sich das Verhältnis zu ihnen darstellt. Die Elternfiguren sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Ursache emotionaler Muster. Diese gilt es aufzubrechen und zu hinterfragen, um so die Gegenwart lustbringend, gelingend zu gestalten.

Paul Ricoeur hingegen hält das Verzeihen, das reale Verhältnis zwischen zwei Menschen, für essenziell. Das selbe gilt für Georg Wilhelm Friedrich Hegel, den der französische Denker neben Sigmund Freud ebenfalls als Gewährsmann heranzieht. In seiner „Phänomenologie des Geistes“ begreift der deutsche Philosoph das Verzeihen als Versöhnung: Nur wenn sich zwei, Täter und Opfer, zu einem versöhnenden Ja durchringen, können sie sich gegenseitig anerkennen. Und so die Endlosschleife von Rache und Vergeltung durchbrechen. Quelle: „Verzeihen“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies