Die ionische Philosophie sucht nach dem Urstoff

Die erste philosophische Schule der Geschichte ist die ionische gewesen, die von Thales, Anaximander und Anaximenes. Diese Philosophen haben den „Urstoff“ aller Dinge gesucht: Bei Thales war es das Wasser, bei Anaximander das Aperion und bei Anaximenes die Luft. Carlo Rovelli fügt hinzu: „Über Thales ist nur wenig bekannt. Man weiß, dass er viel gereist ist und eine Rolle im politischen Leben von Milet spielte, wie auch Anaximander nach ihm.“ Man schreibt ihm wichtige Sätze der elementaren Geometrie zu. Vor allem soll er diese Sätze bewiesen haben. Als seine konzeptuelle Leistung gilt seine Anregung, nach dem Ursprung zu suchen. Nach dem Prinzip zu fahnden, das hinter allen natürlichen Phänomenen wirksam ist. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.

Thales will wissen wie die Natur funktioniert

Thales versucht, die immense Vielfalt natürlicher Phänomene um die Menschen herum durch ein allumfassendes Prinzip zu erklären, das der Natur innewohnt. So gesehen, will Thales nichts anderes als wissen, wie die Natur funktioniert, und das ist genau das Programm der Naturwissenschaften. Die grundlegende Bedeutung, die Thales dem Wasser und dem Meer zumaß, hatte wahrscheinlich mythologische Gründe. Denn er stellte sich die Erde wie eine auf dem Meer schwimmende Scheibe vor.

Anaximenes wählt die Luft als „Urstoff“ aller Dinge. Seiner Meinung nach entstehen die Dinge nicht aus einem Wandel des Urstoffs, sondern durch Trennung der Gegensätze, aufgrund der ewigen Bewegung. Anaximenes sucht nach einem plausiblen Mechanismus, um zu erklären, dass ein einziger Stoff vielfältige Erscheinungsformen annehmen kann. Mit bemerkenswerten Einfallsreichtum findet er diesen Mechanismus in der Verdichtung und Verdünnung. Er stellt die Hypothese auf, dass Wasser durch Verdichten von Luft entsteht, Luft umgekehrt durch Verdünnen von Wasser.

Demokrit und Leukipp führen die Idee von Atomen ein

Erde entsteht laut Anaximenes durch eine weitere Verdichtung von Wasser, und so fort für andere Stoffe. Das ist für Carlo Rovelli eindeutig ein Fortschritt hin zu einer besseren Beschreibung der Struktur der Welt. Später ergänzen ionische Philosophen die Idee vom Verdichten und Verdünnen durch eine kleine Anzahl von Urstoffen, aus deren Kombination die Formenvielfalt der Materie erwächst. Die Atomisten Leukipp und Demokrit machten die Vorstellung einer Verdichtung und Verdünnung noch klarer und plausibler.

Denn sie führten die Idee von elementaren Atomen ein, die sich im leeren Raum bewegen. Heute weiß die Wissenschaft, dass praktisch alle Materie aus drei Komponenten besteht: Elektronen, Protonen und Neutronen. Die Vielfalt der Materie wird von den verschiedenen Kombinationen und der stärkeren und schwächeren Verdünnung oder Verdichtung dieser drei Komponenten bestimmt. Tatsache ist, dass sich einige allgemeine Denkschemata, die in den ersten Jahrhunderten der griechischen Zivilisation entwickelt wurden, bis heute als effizient erwiesen haben. Quelle: „Die Geburt der Wissenschaft“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies