Leid kann sich in ein dennoch gelungenes Leben verwandeln

Wer resilient ist, vermag trotz tiefster Wunden – oder gerade durch sie – ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sich auf die Zukunft hin zu entwerfen, anstatt an der Vergangenheit zu kleben. In Friedrich Nietzsches „Ecce Homo“ heißt es: „Der wohlgeratene Mensch errät Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vorteil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker.“ „Resilienz“ stammt von dem lateinischen Verb resilire ab, was zurückspringen, abprallen bedeutet. Svenja Flaßpöhler erklärt: „Allgemein bezeichnet es die Widerstandsfähigkeit eines Systems gegenüber Störungen und findet in verschiedenen Bereichen Anwendung, zum Beispiel im Katastrophenschutz und in der Ökologie. In der Psychologie bezeichnet Resilienz die Fähigkeit eines Menschen, Krisen für die eigene Entwicklung nutzbar machen zu können.“ Dr. Svenja Flaßpöhler ist seit Dezember 2016 leitende Redakteurin im Ressort Literatur und Geisteswissenschaften beim Sender „Deutschlandradio Kultur“.

Der Preis der seelischen Stabilität ist ein echtes Oxymoron

Einer der bekanntesten Resilienzforscher ist der französische Neurophysiker und Psychoanalytiker Boris Cyrulnik, der sich in seiner Forschung insbesondere mit traumatisierten Kindern aus der Zeit des Dritten Reiches beschäftigte. Dass resiliente Persönlichkeiten, ihre Wunden tatsächlich ganz und gar „ausheilen“, wie Friedrich Nietzsche nahelegt, bezweifelt Boris Cyrulnik allerdings. Der Psychoanalytiker schreibt in seinem Buch „Die Kraft, die im Unglück liegt“: „Die Gruppe der Kinder, die deportiert worden waren, war einfach gezwungen, als Eltern oder im Beruf erfolgreich zu sein, nur so konnten sie die schweren Verletzungen verarbeiten (…). Das ist der Preis der seelischen Stabilität, ein echtes Oxymoron.“

Das Boris Cyrulnik an dieser Stelle von einem Zwang spricht, offenbart das – aus seiner Sicht – Zwiespältige der Resilienz. Ja, es gibt Menschen, die trotz schlimmster Erlebnisse ihrem Leben einen Sinn zu geben vermögen, die beruflich erfolgreich sind, Familien gründen, vorbildliche Eltern sind. Doch, so der Franzose, ihr Erfolg ist nur die Kehrseite ihres Leids. Was genau Boris Cyrulnik damit meint, offenbart der von ihm in diesem Kontext gewählte Begriff „Oxymoron“. Ein Oxymoron ist eine rhetorische Figur, die zwei gegensätzliche Begriffe miteinander verbindet.

Humor kann manchmal schwerste Tragik in ausgelassenen Fröhlichkeit verwandeln

In Begriff auf die Widerstandsfähigkeit eines Menschen verdeutlicht diese Figur „die innere Zerrissenheit“ eines Menschen, der etwas Schreckliches erlebt hat und sich damit arrangiert, indem er sich spaltet. Der Teil der Person, der dem schrecklichen Erlebnis ausgesetzt war, leidet und stirbt langsam ab, während ein anderer, besser gewappneter Teil, der noch gesund, aber verborgen ist, mit dem Mut der Verzweiflung alles zusammenrafft, was ihm noch ein wenig Glück verschaffen und seinem Leben einen Sinn verleihen kann.

Svenja Flaßpöhler verdeutlicht: „Das Oxymoron bringt so zum Ausdruck, wie sich Leid in ein dennoch gelungenes Leben zu verwandeln vermag: durch eine Spaltung im Innern, die zwangsläufig die Realität des Leids ein Stück weit verleugnet.“ So geschieht es beispielsweise im Tagtraum, dem Phantasieren; oder auch im Humor, der auf einen Schlag schwerste Tragik in ausgelassene Fröhlichkeit kippen lässt. Auf diese Weise macht sich der Mensch selbst zum Erzähler seines Lebens; er bestimmt, wie er sich und sein Unglück darstellt und schafft sich eine „narrative Identität“. Quelle: „Verzeihen“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies