Ohne Glauben kann kein Mensch leben

Zeiten, in denen der Glaube schwindet, geben sich gerne der Vorstellung hin, früher sei stärker und unangefochtener geglaubt worden. Deshalb hätte es damals „Glauben“ und nicht etwa nur „Willen zum Glauben“ gegeben. Rüdiger Safranski erläutert: „Dieser Wille zum Glauben gilt als ein Phänomen der aufgeklärten Spätzeit, in der die religiösen Lichter allmählich ausgehen und dem raffinierter gewordenen und von seiner eigenen Aufgeklärtheit überanstrengten Bewusstsein nicht mehr der Glaube, sondern nur noch der Wille zum Glauben bleibt.“ Diesen Ausdruck hat der amerikanische Philosoph William James Anfang des letzten Jahrhunderts geprägt. Er bezeichnet die Art, wie man sich Glauben und Religion heutzutage intellektuell allenfalls glaubt leisten zu können. Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski ist Honorarprofessor für Philosophie an der Freien Universität Berlin.

Das Wissen kommt meist aus zweiter oder dritter Hand

Gleichwohl, in bestimmter Hinsicht bleibt der Glauben allgegenwärtig. Alltäglich leisten sich die Menschen bekanntlich immerfort – den Glauben. Rüdiger Safranski ergänzt: „Ohne Glauben können wir gar nicht leben. In der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft lebt jeder, was das Wissen betrifft, aus zweiter oder dritter Hand.“ Bei den meisten Dingen, die den unmittelbaren persönlichen Lebens- und Kompetenzbereich überschreiten, kann man gar nicht anders, als an das Wissen der anderen zu glauben.

In den meisten Angelegenheiten sind die Menschen deshalb nur gläubige Mitwisser. Da jeder nur Spezialist für Bestimmtes ist und Laie in Bezug auf den riesigen Rest, ist die hochspezialisierte Wissensgesellschaft zugleich auch eine Glaubensgemeinschaft. Rüdiger Safranski erklärt: „Je mehr Wissen, desto mehr Glaube an das Wissen der anderen. Diese Art des Glaubens hat also auf jeden Fall eine große Zukunft.“ Es gibt in der Wissensgesellschaft Felder, wo in diesem Sinne besonders intensiv geglaubt wird.

Vertrauen und Versprechen gehören zusammen

Der Glaube an das – womöglich nur vorgebliche – Wissen hat mit dem eigentlichen religiösen Glauben durchaus eine Gemeinsamkeit, nämlich das Vertrauen. Man kann an das Wissen der anderen nur glauben, wenn man ihnen vertraut. Das vorgebliche Wissen wirkt auf einen selbst wie ein Versprechen. Es wird schon stimmen, was da behauptet wird, so glaubt man. Vertrauen und Versprechen gehören also zusammen. Das Geglaubte ist immer etwas Vielversprechendes, im Guten wie im Bösen.

Rüdiger Safranski stellt fest: „Versprechen heißt nicht nur, „etwas“ versprechen, sondern auch: für sich selbst gutsagen, denn bei jedem Akt des Versprechens verspricht man zugleich implizit, derselbe bleiben zu wollen, wenigstens insoweit, dass man sich künftig an das früher gegebene Versprechen gebunden fühlen wird. Ich muss an mich selbst glauben können, wenn ich aufrichtig für die Zukunft etwas verspreche.“ Indem man etwas verspricht, verspricht man, dass man sich selbst treu bleiben will, dass man nicht, wenn es an die Einlösung des Versprechens geht, erklärt: Pardon, meine Person hat sich verändert, derjenige, der dir früher etwas versprochen hat, existiert leider nicht mehr. Quelle: „Der Wille zum Glauben“ von Rüdiger Safranski in „Über Gott und die Welt“

Von Hans Klumbies