Wahre Liebe kennt auf Fragen keine Antworten

Der Volksmund sagt: „Liebe macht blind“. Der Verliebte macht sich ein Bild von der Geliebten, das die späteren Tests der Erfahrung nicht aushält. Andererseits transzendiert personale Liebe alle Bilder, alle Qualitäten der Geliebten und geht auf die Person jenseits dieser Qualitäten. Die Vorzüge sind es, an denen sich die Liebe entzündet. Aber wenn sie einmal entzündet ist, dann lässt sie die Qualitäten hinter sich. Robert Spaemann schreibt: „Wer auf die Frage, warum er diesen Menschen liebt, eine Antwort geben kann, der liebt noch nicht wirklich.“ Der Liebende ist deshalb bereit, sich auf alle künftigen Wandlungen des geliebten Menschen einzulassen und die eigenen Wandlungen, die eigene Biographie mit der des anderen unabänderlich, auf Gedeih und Verderben zu verknüpfen. Robert Spaemann war ordentlicher Professor für Philosophie an den Universitäten Stuttgart (bis 1968), Heidelberg (bis 1972) und München, wo er 1992 emeritiert wurde.

Die Bedingungslosigkeit der Hingabe ist konstitutiv für die Liebe

Robert Spaemann stellt klar: „Die Bedingungslosigkeit der Hingabe, das heißt das Versprechen der Treue, ist konstitutiv für die Liebe.“ Aber hier stößt man auf einen scheinbaren Widerspruch. Denn der Fall, dass das Versprechen nicht gehalten wird, ist sehr, sehr häufig. Und zwar wird es nicht gehalten, weil der Andere sich mehr geändert hat, als der Liebende es verkraftet, oder weil dem Liebenden seine Liebe abhandenkommt. Weil die Bedingungslosigkeit und die Perspektive der Unabänderlichkeit aber konstitutiv für die Liebe ist, darum erscheint es dem ehemals Liebenden im Rückblick so, als habe er eigentlich gar nicht geliebt.

Und dies vor allem dann, wenn eine neue Liebe die alte ihres Glanzes beraubt. Das Wort Liebe scheint tatsächlich zwei ganz verschiedene Dinge zu bezeichnen, zwei Haltungen, die Aristoteles schon unterscheidet, wenn er von den drei Formen der Freundschaft spricht: jener, die um des Vergnügens willens gepflegt wird, jener um des Nutzens willen und jener deshalb, weil der Freund es wert ist, um seiner selbst willen geliebt zu werden. Der deutsche Jesuit Friedrich von Spee (1591 – 1635) unterscheidet die „begierliche Liebe“ und die „Liebe der Gutwilligkeit“, die er auch Liebe der Freundschaft nennt.

Liebe ist nie Sünde

Gottfried Wilhelm Leibniz definiert die Liebe als „die Freude am Glück des anderen“. Aber gerade im sexuellen Umgang ist offensichtlich die Lust des anderen ein wesentlicher Teil der eigenen Lust. Ist das Interesse an der Lust des anderen also egoistisch? Dass die Reflexion über die Liebe in den meisten Fällen nur auf Eigenliebe stößt, das hat schon La Rochefoucauld bemerkt. Denn die Reflexion selbst entspringt der Eigenliebe, die die Unschuld zerstört und deshalb bei ihrer Durchsuchung des eigenen Inneren immer nur auf Eigenliebe stoßen kann.

Robert Spaemann fügt hinzu: „Aber der Mensch ist nun einmal ein Wesen der Reflexion, das seine anfängliche Unschuld immer schon verloren hat.“ Liebe ist nie Sünde. Aber die Verletzung eines Menschen ist es, die Verletzung der Treue ist es, und der Bruch eines Versprechens ist es. Und die Redensart: „Ich bin eben so, und du musst mich akzeptieren, wie ich bin“, ist für Robert Spaemann eine Unverschämtheit, auch wenn sie sich theologisch mit dem unsäglichen Unsinn rechtfertigt, Gott akzeptiere uns, wie wir sind. Quelle: „Antinomien der Liebe“ von Robert Spaemann im Reclam Heft „Was ist Liebe?“

Von Hans Klumbies

Schreibe einen Kommentar