Bei der Ernährung geht es oft um Moral und Werte

Im Zeitalter der nahezu unendlichen Optionen, in dem man ohne feste Vorgaben von Tradition und sozialen Selbstverständlichkeiten seinen Alltag und seine Essgewohnheiten selbst bestimmen und mit Sinn erfüllen muss, wird jedoch für viele Menschen, die nach Sinn und Halt suchen, beispielsweise die Ernährung zum immer wiederkehrenden Gesprächsstoff. Ernst-Dieter Lantermann erläutert: „Im privaten Kreis genauso wie im Restaurant, auf Partys und in der Kantine gerät man rasch in Diskussionen über das richtige und das falsche Essen.“ Dabei geht es nur selten um den Geschmack, sondern meist um Krankheit und Gesundheit, um die Frage, wie man leben will und leben soll, also um Moral und Werte, Leben und Verantwortung. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

Essen wird zur Weltanschauung

Das richtige Essen wird –, je hitziger die Gespräche, desto entschiedener die Fronten –, zu einer Frage des richtigen Weltverhältnisses und des richtigen Lebens, Essen wird zur Weltanschauung. Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „Die Art und Weise, wie und womit man sich ernährt, was erlaubt und verboten ist, wird für viele zu einem bedeutsamen Ausdruck ihres Lebensstils.“ Inzwischen hat die Art, wie sich Menschen ernähren, was, wann, wo und mit wem sie essen, den Mechanismus der Selbstdarstellung an sich gerissen.

Essen ist zum Ausdruck einer Ideenfindung über sich selbst geworden, und damit zu einem wesentlichen Aspekt des Lebensstils. Ernst-Dieter Lantermann weiß: „Unter dem Begriff „Lebensstil“ wird eine enge Verbindung von Verhaltensweisen und Vorlieben mit den Werthaltungen, Zielen, Einstellungen und Weltbildern einer Person verstanden, eine Verbindung, die für den Einzelnen nach innen verpflichtend ist und nach außen hin zur Darstellung gebracht werden soll.“ Essgewohnheiten werden zu Ernährungsstilen.

Lebensstil darf nicht mit Lifestyle verwechselt werden

Mit der Art und Weise ihrer Ernährung bringen Menschen ihre grundlegenden Selbstorientierungen, moralischen Überzeugungen und Werthaltungen, ästhetische Vorlieben und politischen Haltungen zum Ausdruck – für sich selbst und für die anderen. Ernst-Dieter Lantermann weist darauf hin, dass man den individuellen Lebensstil nicht mit dem „Lifestyle“ einer Person verwechseln darf. Menschen, die ihr Verhalten und Erleben als die performative Dimension ihres Lebensstils begreifen, befragen sich bei jeder für sie wichtigen Entscheidung, ob dieses oder jenes Verhalten mit ihrem Selbstverständnis, ihrer Identität und Moral kollidieren könnte.

Der Mensch, der seinem Lifestyle nachgeht, sucht dagegen nach jeder Gelegenheit, stylish aufzutreten, dort sein Leben und seinen Auftritt zu genießen, wo es gerade angesagt ist. In den vergangenen 15 Jahren haben sich die Ernährungsweisen zum Teil grundlegend verändert. Die Verbindung zwischen Lebensstil und Ernährung war damals weniger verbindlich, die Ernährungsstile ließen einen breiten Spielraum offen, sie waren wenige strikt formuliert, und Abweichungen wurden toleriert, ohne dass man mit Sanktionen, Zurechtweisungen oder Schamgefühlen rechnen musste. Quelle: „Die radikalisierte Gesellschaft“ von Ernst-Dieter Lantermann

Von Hans Klumbies