Die Aufklärung bot eine Möglichkeit, den erwachenden Machtanspruch der urbanen Mittelschicht argumentativ zu untermauern. Philipp Blom zählt die Argumente auf: „Wir sind alle gleich, alle frei, haben alle dieselben Rechte, jeder von uns muss die Möglichkeit haben, sein Leben zu gestalten und in der Gesellschaft eine Rolle zu spielen.“ Jeder Mensch hat ein Anrecht auf Respekt, unabhängig von seiner Religion, seinen Überzeugungen, seiner Herkunft. Gleichzeitig machte es das Zusammenleben von sehr unterschiedlichen Menschen möglich, solange sich alle, wie die Aufklärer argumentierten, an die Gesetze hielten, welche die Vernunft diktierte und die im Allgemeinen Willen zum Ausdruck kamen. Sowohl die Aufklärer als auch ihr erklärter Feind Jean-Jacques Rousseau argumentierten mit dem Allgemeinen Willen, der von der Gemeinschaft ausgedrückt wird. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.
Die Vernunft braucht Pluralität
Statt der Vernunft stellte Jean-Jacques Rousseau aber die Natur ins Zentrum seines moralischen Denkens, deren Stimme im Gewimmel einer komplexen Gesellschaft nur von einem weisen Gesetzgeber gehört wird. Philipp Blom erläutert: „Der Gesetzgeber definiert also, was die Natur fordert und was sie verabscheut, was wahr, was gut und was böse ist.“ Die Vernunft der Aufklärer ist anders. Niemand besitzt sie, niemand hat die Autorität, als Einziger ihre Stimme zu interpretieren.
Die Vernunft ist nur ein menschliches Potential. Ihr Inhalt entsteht durch rationale Auseinandersetzung, durch Argumente und Gegenargumente, durch wissenschaftliche Experimente und Entdeckungen, durch Gesetze als kontingenter Ausdruck des Allgemeinen Willens. Die Vernunft braucht Pluralität, Jean-Jacques Rousseaus Natur verabscheut sie. Der Schlüssel zum Entstehen der liberalen Demokratie liegt im Machtverzicht aller Beteiligter. Alle Interessengruppen müssen dabei bereit sein, keinen Alleinanspruch auf die Macht innerhalb der Gesellschaft zu fordern.
Eine sichere Zukunft wird mehr und mehr in Frage gestellt
Und wenn diese Vereinbarung in einem System reflektiert ist, dass die Anhäufung von Macht verhindert und kontrolliert, kann eine pluralistische und regelbasierte Gesellschaft entstehen. Um es mit Jean-Jaques Rousseau und Diderot zu sagen: Sie müssen den Allgemeinen Willen als Gesetz anerkennen. Diese Bereitschaft ist davon abhängig, dass diejenigen, die diese Vereinbarung miteinander treffen, überzeugt sind, dass ihr Machtverzicht letztlich in ihrem Interesse ist.
Denn der Verzicht auf Macht gibt dem Einzelnen mehr Sicherheit und mehr Möglichkeiten, für sich selbst und seine Familie ein gutes Leben aufzubauen. Gegenwärtig sind immer mehr Menschen nicht mehr sicher, ob sie diese Vereinbarung treffen sollen, ob sie ihre Macht aus den Händen geben sollten, weil sie nicht mehr überzeugt sind, dass diejenigen, die sie damit beauftragen, ihre Interessen zu vertreten, das auch tun wollen oder können, und weil sie merken, dass die gesellschaftliche Vereinbarung nicht mehr eingehalten wird, dass sie nicht mehr erwarten können, für ihre Arbeit eine gesicherte Zukunft zu haben. Quelle: „Was auf dem Spiel steht“ von Philipp Blom
Von Hans Klumbies