Grenzkontrollen gehören wieder zum europäischen Alltag

Es gibt Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich, zwischen Dänemark und Schweden, zwischen Frankreich und Belgien. Was vor wenigen Jahren noch undenkbar schien, gehört mittlerweile wieder zum europäischen Alltag. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Das Verschwinden der Grenzen war offenbar nur von kurzer Dauer, Grenzen treten wieder ins allgemeine Bewusstsein, und damit auch die Frage nach deren Sinn und Funktion.“ Die Flüchtlingsströme des Jahres 2015, die ohne Kontrolle und Registrierung durch Europa zogen, galten den einen dann auch als Symbol für einen grenzenlosen, offenen, humanisierten Kontinent, den anderen als Indiz dafür, dass dieser Kontinent im Begriff war, sich vor einer unkontrollierten Wanderungsbewegung überrollen zu lassen und damit aufzugeben. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Die Diskussion über Grenzen ist moralisch aufgeladen

Grenzen stellen so immer mehr dar als eine Markierung in der Landschaft, an die bürokratische Handlungen angeschlossen sein können. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Die erregten Debatten über Grenzen, die Kurzschlüsse, die hinter einer Aufforderung zur Kontrolle gleich eine Mauer oder Abschottung vermuten, die Ängste, dass die Renaissance von Binnengrenzen gleich das europäische Einigungsprojekt zum Scheitern bringen und eine neue Epoche des Nationalismus einleiten könnte, die immer wiederkehrende Frage, wie das prekäre Verhältnis von Sicherheitsbedürfnis und Freiheitsansprüchen zu gestalten sei – all dies zeigt, dass die Grenze selbst wieder zu einer symbolisch bedeutsamen Kategorie des politischen und sozialen Diskurses geworden ist.“

Bemerkenswert an diesem Diskurs aber war und ist die damit verbundene Moralisierung der Grenze. Es dominieren eben nicht sicherheitstechnische, staatsrechtliche oder migrationspolitische Argumente die Debatte, sondern die Frage, ob man in jeder Grenze nicht prinzipiell etwas Menschenverachtendes, Inhumanes, letztlich Böses sehen müsse, dessen Wiederkehr, wenn überhaupt, nur mit Zähneknirschen und unter lautem Protest hingenommen werden könne.

Die Erfahrung der Grenzenlosigkeit prägt das Bewusstsein der Europäer

Für viele Menschen scheinen Grenzen etwas zu sein, das es besser nicht gäbe. Die Moralisierung der Grenze und der pejorative Unterton, mit dem liberal, europäisch und human gesinnte Menschen dieses Wort mittlerweile verstehen, haben einiges für sich. Die Moderne verstand und versteht sich als Projekt der fallenden Grenzen, die Praxis der ästhetischen Avantgarde begriff sich seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert als Akt der Grenzüberschreitung, seine Grenzen nicht nur ausloten und hinausschieben, sondern prinzipiell nicht akzeptieren zu müssen, gehört zum Selbstbild des Menschen im Zeitalter der Selbstoptimierung.

Und dass die moderne Welt in Gestalt entfesselter Märkte, fließender Kapitalströme, unaufhaltsamer Technologien, ungehinderter digitaler Kommunikation mit Grenzen nichts mehr anfangen kann, gehört mittlerweile zu jenen Selbstverständlichkeiten unserer Zeit, die nicht mehr in Frage gestellt werden dürfen. Aber auch die Idee „Europa“ lebte vom Pathos fallender, schwindender, bedeutungslos gewordener Grenzen. Der Fall der Berliner Mauer, das Zerschneiden des Eisernen Vorhangs, der Abbau von Grenzkontrollen: Das sind die Erfahrungen von Grenzenlosigkeit, die das Bewusstsein dieses Kontinents bestimmen und die nun durch eine ganz andere Entwicklung konterkariert werden. Quelle: „Bildung als Provokation“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies