Beim Erleben der Natur wird dem Menschen seine Kleinheit und Größe bewusst

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Dieses bekannte Zitat stammt von Immanuel Kant (1724 – 1804), dem wichtigsten deutschen Philosophen der Aufklärung. Für Manfred Spitzer hört sich das Kant-Zitat schon formal aufgrund der verwendeten Sprache eigenartig an. Auch inhaltlich tut sich der heutige Mensch schwer mit der hier behaupteten Verbindung von Sternenhimmel einerseits und dem Menschen als soziales Gemeinschaftswesen andererseits. Liest man weiter in Immanuel Kants Text, so erfährt man durchaus genauer, was er hier meint. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen.

Eine Gemeinschaft funktioniert nur auf einzuhaltender Normen und Werte

Immanuel Kant meint zunächst die Sinnlichkeit des unmittelbaren Erlebens – ich sehe die Sterne vor mir; es geht also nicht bloß um Gedanken oder Vermutungen, sondern um das Naturerlebnis. Und in diesem Erleben wird zweierlei wahrgenommen, nämlich Größe und Kleinheit zugleich. Auch im Bereich der Moral werden Größe und Kleinheit zugleich erlebt, wobei das Erleben mit der eigenen Winzigkeit beginnt. Wer sich als Person begreift, die handelnd in das Weltgeschehen eingreift, dann erlebt er zunächst seine Begrenztheit.

Beim Anblick der Natur – Sternenhimmel, Wald, Wasserfälle, Meer, weites Land, Berge, Täler – erlebt sich der Mensch als Teil eines größeren Zusammenhangs. Dabei wird ihm bewusst, wie winzig klein er einerseits ist, doch zugleich auch wieder riesengroß als Teil des Ganzen, zu dem er gehört. Immanuel Kant vermutete, dass einen Menschen dieses Gefühl dazu bringt, sich mitmenschlicher zu verhalten. Dies ist für das Funktionieren eine Gemeinschaft von erheblicher Bedeutung, denn sie funktioniert überhaupt nur aufgrund allgemeiner einzuhaltender Normen und Werte, die nicht aus den Gesetzen der Natur folgen, sondern die sich die Menschen selbst geben.

Der Stadtmensch hat kaum noch Kontakt zur Natur

Man könnte es mit diesem Gedanken an den engen Zusammenhang zwischen Naturerlebnis und moralischem Handeln bewenden lassen, gäbe es nicht gerade heute in beiderlei Hinsicht so abgrundtiefe Defizite. Die Defizite im Naturerleben beginnen damit, dass der Stadtmensch kaum noch Kontakt zur Natur hat. Vor allem jüngere Menschen sehen gar nicht mehr ein, warum man sich überhaupt in die Natur begeben sollte: Warum rausgehen, wenn man ein iPhone hat.

Emphatische und moralische Defizite sieht man daran, dass sich mitten unter uns hierzulande ganz offensichtlich Menschen befinden, deren Mitgefühl für das Leiden anderer eingeschränkt oder gar nicht mehr vorhanden ist. Wollen wir in einer Gesellschaft von Menschen leben, die zu wirklichem Mitgefühl, zu moralischem Empfinden nicht mehr fähig sind. Manfred Spitzer glaubt fest daran, dass die wenigsten Menschen eine solche Welt einer Gemeinschaft empathiefähiger Menschen vorziehen würden. Quelle: „Einsamkeit“ von Manfred Spitzer

Von Hans Klumbies