Die Selbstliebe ist die Voraussetzung für die Liebe zu anderen

Für den deutschen Philosophen Josef Pieper, der von 1904 bis 1997 lebte, besteht das Glück der Liebenden nicht nur im Freigeben, sondern vorrangig im Habenwollen, im Gewinnen und Genießen des Geliebten. Daher ist seiner Meinung nach Lieben ohne die Intentionalität, selbst glücklich zu sein, eine misslungene Deutung. Liebe ist auch Hunger und Durst, selbst wenn sie den anderen beglücken möchte. Die Liebe ist nicht einfach selbstlos, sondern auch bedürftig und brauchend – sie ist schenkend, wertschätzend, fordert aber gerade deswegen für sich eine gleichgeartete Reaktion ein. Sie ist damit keineswegs vom Zweck erfüllt, sie ist vielmehr sinnvoll. Wenn das gesamte Selbst auf den geliebten Gegenüber ausgerichtet ist, führt dies zur Hochform von Liebe: hingerissen sein von oder leben und sterben für  jemanden – auf jeden Fall sich ergreifen lassen von einem anderen.

Alles Glück ist Liebesglück

Die Liebe will sowohl das Wohl des anderen, aber vollzieht damit auch eine innerste Selbstwerdung. Die Selbstliebe spielt bei Josef Pieper eine wichtige Rolle, denn sie ist die Voraussetzung einer Liebe und wird durch diese kultiviert. Es gibt für ihn keine ethische Pflicht zur Verausgabung, zum Selbstverlust, ebenso wenig wie egoistische Selbstverwahrung und unbeteiligte Kühle in die Mitte des Liebens führen. Dieser Spielraum zwischen Hingerissensein zum anderen und der Selbstliebe ist der Gestaltung jedes Einzelnen überlassen.

Diese Gestaltung ist entscheidend für das Gelingen oder Misslingens des ganzen Lebens, sie entscheidet über das Glück, denn alles Glück ist Liebesglück. Josef Pieper bezeichnet die Liebe als das Urgeschenk. Alles was dem Menschen sonst noch unverdient gegeben werden mag, wird erst durch sie zum Geschenk. Wer den Geheimnissen der Liebe auf die Spur kommen möchte, sieht sich zuerst einer wahren Schwierigkeit gegenüber: der einfach überwältigenden Unausmessbarkeit des Gegenstandes.

Johann Wolfgang von Goethe: „Liebe ist Leiden.“

Josef Pieper macht darauf aufmerksam, dass das Lateinische, die bis in die Gegenwart weitaus am kräftigsten das Vokabular der westeuropäischen Völker bestimmende alte Sprache, zur Bezeichnung der Liebe mindestens ein halbes Dutzend dem Römer geläufig gewesener Namen kennt: „Amor und caritas sind allgemein bekannt. Doch werden die christlichen Liebeswerke, die wir heute mit großer Selbstverständlichkeit der caritas zuordnen, von den Zeitgenossen Augustins, wie er selbst es berichtet, Werke der pietas genannt. Dilectio, eine vierte Vokabel, wurde gleichfalls schon beiläufig erwähnt. Aber in diese gleiche Reihe gehört außerdem nicht nur affectio, sondern einigermaßen unerwartet, auch studium.“

Viele Menschen wissen vielleicht, dass Lieben nicht ausschließlich und möglicherweise nicht einmal primär etwas ist, das man als selber Tätiger bewirken und tun kann. Es ist vielleicht etwas, das den Menschen eher widerfährt. Johann Wolfgang von Goethe bemerkte schon im Alter von 16 Jahren: „Liebe ist Leiden. Man muss es nur, man will es nicht.“ Doch bleibt laut Josef Pieper immerhin zu fragen, wer denn, genau genommen, das tätige Subjekt sei, wenn uns jemand gefällt oder wenn wir jemanden hinreißend finden?

Von Hans Klumbies

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