In Deutschland findet ein Kulturkampf statt

Im Kulturkampf um die Hoheit über eine neue Identität bilden sich zunehmend Extremismen aus. Christian Schüle stellt fest: „In unfreiwilliger Ironie der Weltgeschichte lässt die politische Linke es zu, dass die Verteidigung der freien Welt heute an Nationalkonservative und die Neue Rechte delegiert wird: als Befreiung von Kulturfremdheit und Heimatschutz vor unerbetener Wanderschaft.“ Gegen die Bewegung der teils gewaltbereiten radikalen Rechten hat die Linke keine progressive Gegenkraft aufzubieten. In der Aversion gegen Europa – und gemeint ist die Europäische Union – sind extreme Linke und extreme Rechte einander bestens verbunden. In Deutschland laufen erstaunlich viele bisherige Wähler der Linkspartei, der SPD und Grünen zur AfD über, und es geht dabei nicht um Fremdenfeindlichkeit allein. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Viele Menschen lassen sich ihr Leben durch Fremdsteuerung abnehmen

Sondern es geht dabei vornehmlich um die Schutzsuche des sogenannten „kleines Mannes“, also des linken Stammkapitals. Linke Weltbilder waren immer elitär-verkopfte Erziehungs- um Umverteilungsprogramme. Die kompakte nationalkonservative Rechte setzt dagegen auf die große Emotion. Die Sehnsüchte des sich heimatbedroht fühlenden einfachen Bürgers hat die Linke jahrelang nicht verstanden, ignoriert oder denunziert. Dem Herrschaftsbereich des Bauchs mit politikwissenschaftlichen Seminaren beizukommen wird vermutlich nicht funktionieren.

Fast niemand kann mehr in „postfaktischen Zeiten“ Irreales von der Realität unterscheiden. Der Modus des als ob des Lebens in einer Epoche der Ersatzstoffe, in der das Original durch die Kopie, die Wahrheit durch die Simulation ersetzt wurde, führt dazu, dass sich der Einzelne sein Leben durch Fremdsteuerung abnehmen lässt. Viele Menschen leben im Konjunktiv, das den Traum erlaubt, immer noch eine Möglichkeit zu haben, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Vor wem auch? Wer sich festlegt, gilt als Spießer.

Das Opfer ist der Held unserer Zeit

Es wird auch wieder wichtig zu betonen dass dieser oder jener ein Opfer ist, weil die Identität eines Opfers politische und soziale Ansprüche mit sich bringt und Gefolgschaften der Gesinnung generiert. Nicht die faktisch erlittene Gewalt einzelner Personen ist hier gemeint, sondern das abstrakte Opfer. Wer sich selbst zum Opfer macht, leidet unter den Umständen, die einem wider Willen auferlegt werden. Je unübersichtlicher und komplexer die sozioökonomischen Verhältnisse werden, je weniger klar die Schuldfrage geklärt ist, wer wem warum Leid zufügt, desto leichter ist es sich als Opfer auszugeben.

Das Opfer, vermerkt der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli, ist der Held unserer Zeit: Sein Status als Opfer verspricht höchste Anerkennung, erzeugt machtvolle Ansprüche und ist über jede Kritik erhaben. Christian Schüle ergänzt: „Wenn sich also viele eine Opfer-Identität borgen, entsteht ein Opfer-Markt mit permanenter Konkurrenz diverser Opfer-Identitäten. Aus der Opfer-Ideologie lässt sich dann das Recht auf Ressentiment und Revolte ableiten und eine Verteidigungs- als Kampfgemeinschaft formieren.“ Quelle: „Heimat“ von Christian Schüle

Von Hans Klumbies