Gerlinde Unverzagt kennt die Probleme der Dauerpubertät

Eltern und Kinder stehen sich heute so nah wie nie zuvor. Noch nie in der Geschichte war Eltern und Kinder eine so lange Phase gemeinsamen Erwachsenenseins vergönnt: Die gestiegene Lebenserwartung verändert das Verhältnis zwischen den Generationen. Gerlinde Unverzagt erläutert: „Wir kommunizieren auf (vermeintlich) gleicher Augenhöhe und auch viel häufiger; die tägliche E-Mail, die launige Whatsapp, die SMS zwischendurch – die stetig pulsierende digitale Nabelschnur hat frühere Generationen nicht miteinander verbunden.“ Alte Modelle aus Respekt, Gehorsam und Tradition reichen nicht mehr, um die Beziehung zu beschreiben. Die Idee, in Kindern Freunde zu sehen, hat mit dem Paradigmenwechsel in der Erziehung nach 1968 – von der „Bestimmerfamilie“ zur „Verhandlerfamilie“ – zu tun, auch mit der Jugendbesessenheit der Gegenwart. Gerlinde Unverzagt hat folgende Bücher veröffentlicht: „Das Lehrerhasserbuch“, „50 ist das neue 30“ und „Generation ziemlich beste Freunde“.

Jede Generation muss sich von ihren Eltern lösen

Die Beziehung zwischen den Generationen zuvor beruhte auf Unterschieden zwischen Erwachsenen und Kindern. Heute folgen beide ähnlichen Konsummustern, betonen eher das Gemeinsame. Jugendlichkeit wird zum generationenübergreifenden Prinzip des Lifestyles. Die Verlockung ist groß, erwachsenen Kindern alle Annehmlichkeiten zu bieten und im Gegenzug daraus die trügerische Sicherheit zu ziehen, genauso jung zu sein, wie man sich mit ihnen fühlt. Aber jede Generation muss sich von ihren Eltern lösen, muss das Gefühl entwickeln, eigenständig und unabhängig zu sein, um daraus die Kraft für eigene Lebensentwürfe zu schöpfen.

Es muss Gründe dafür geben, dass Erwachsene die Phasen der Kindheit und Jugend samt ihrer Protagonisten idealisieren. Vielleicht ist eine der Ursachen, dass es nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die Jugendliche gerne hineinwachsen. Gerlinde Unverzagt weiß: „Eltern helfen ihren Kindern nicht, wenn sie nur wenige (vertretbare) Ansprüche stellen. Die therapeutische Gemeinde souffliert ihnen, dass nur Gleiche befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen haben können. Aber Gleichgewicht bedeutet die Abwesenheit von Forderungen.“

Generationenkonflikte spielen heute kaum noch eine Rolle

Gleiche fragen nichts, verstehen alles, vergeben alles. Die infantile Gesellschaft verwischt die Unterschiede zwischen Müttern und Vätern, Eltern und Kindern, zwischen Alten und Jungen. Es besteht die Neigung zur Verschmelzung, weniger zu einer Beziehung zwischen erwachsenen Menschen, in der die Unterschiede zum Thema werden dürfen. Früher typische Generationenkonflikte spielen heute kaum noch eine Rolle. Die Lebensstile von Eltern und Kindern haben sich angeglichen und auf Vorschriften bezüglich Kleidung, Drogen, Berufswahl, Freizeitgestaltung oder Sex haben Eltern längst verzichtet.

Einen Beruf finden, Geld verdienen, eine Familie gründen: Diese drei klassischen Kriterien der Soziologie für das Erwachsensein sind verblasst oder auf später verschoben. Die neue Zeit der Postadoleszenz, der „Nachjugend“ lässt sich als Etappe besonderer Kraft, Freiheit und Intensität verklären, gerne von denen, die sie hinter sich haben. Wann endet diese Phase? Für den amerikanischen Psychologen Jeffrey Jensen Arnett zeigt sich eine Zäsur, wenn die jungen Erwachsenen Verantwortung für sich übernehmen können und finanziell unabhängig sind. Das subjektive Gefühl dafür, erwachsen zu sein, entwickelt sich allerdings bei vielen nur langsam, über mehrere Jahre. Genaue Zeitangaben: unmöglich. Quelle: Chrismon – Das evangelische Magazin

Von Hans Klumbies