Warum hat das Sterben Gottes so dramatische Folgen? Die Wissenschaft hat gigantische Fortschritte gemacht. Kann sie die Rolle Gottes als Fundament des Wissens übernehmen? Die zahlreichen Erkenntnisse der Wissenschaft, so würde Friedrich Nietzsche beipflichten, sind tatsächlich ebenso viele Nägel in Gottes Sarg gewesen. Ger Groot stellt fest: „Doch mit dieser wissenschaftlichen Wahrheit hat es etwas Merkwürdiges auf sich. Und zwar genau deshalb, weil sie den Platz eines Gottes einzunehmen versucht, den es nicht mehr gibt.“ Die Wissenschaft erhebt den Anspruch, der Wirklichkeit in ihrer Reinform Ausdruck zu verleihen. Eigentlich jedoch, so Friedrich Nietzsche, steht sie selbst noch immer unter Imperativen, die nicht wissenschaftlich fundiert sind. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Zudem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.
Die Wissenschaft sucht nach der Wahrheit
Die Wissenschaft glaubt noch immer an die Wahrheit als unanfechtbares Medium und an die moralische Pflicht, diese Wahrheit auszusprechen und aufzuspüren. Friedrich Nietzsche fragt sich: „Doch woher rührt diese Pflicht eigentlich, da es keine transzendente Instanz mehr gibt, die diese Forderung erheben kann?“ Die einzige Forderung, die dann noch übrig bleibt, besteht darin, dass es für den Menschen gut ist, die Wahrheit zu sagen. Dabei zielt Friedrich Nietzsche nicht auf eine moralische Tugend ab.
Sondern er vertritt die These, dass es für die Selbsterhaltung des Menschen vorteilhaft ist, die Wahrheit zu sagen. Es gibt dafür also einen rein utilitaristischen Grund. Was aber ganz und gar nicht zur Idee einer unerschütterlichen, über jede Realität erhabenen Wahrheit führt. Friedrich Nietzsche fragt sich, was passiert, wenn man etwas wahrnimmt und mit einem Wort bezeichnet. Man sieht etwas Individuelles. Aber im Sprechen und Denken bringt man dieses Etwas unter eine Kategorie. Damit macht man es zu etwas Abstrakten.
Der Mensch schafft sich eine schematische Welt
Man nennt ein Buch „ein Buch“ und stellt es damit allen anderen Büchern gleich. Jedes Sprechen ist also eine Reduktion der Wirklichkeit, und mit dieser Reduktion macht sich das Denken anschließend an die Arbeit. Statt eine bunte Ansammlung individueller und sich ständig verändernder Dinge zu sehen, schafft man sich eine schematische Welt. In dieser stellt man vielerlei heterogene Dinge einander gleich. Ihnen unterstellt man zugleich ein beständiges und identifizierbares „Wesen“.
Aufgrund dieser Verformung der Wirklichkeit spricht man dann von der „Wahrheit“. Ger Groot ergänzt: „Wir geben vor, die Welt, so wie sie wirklich ist, darzustellen.“ Friedrich Nietzsches Ansicht nach ist das eine große Lüge, wenngleich eine durchaus nützliche Lüge. Denn ihr Denken und Wissen versetzten die Menschen in der Tat in die Lage zu überleben. Nicht deshalb, weil Begriff und Ding, Gedanke und Welt exakt übereinstimmen, wie das Wort „Wahrheit“ suggeriert. Sondern gerade deshalb, weil sie die Wirklichkeit den menschlichen Bedürfnissen entsprechend verformen. Quelle: „Und überall Philosophie“ von Ger Groot
Von Hans Klumbies