Die Grenzlinie zwischen Anlage und Umwelt ist stark umstritten

Theorien des menschlichen Verhaltens stützen sich auf die der menschlichen Natur: auf Regelmäßigkeiten, die sich aus der universalen menschlichen Biologie ergeben, im Gegensatz zu denen, die in den Normen oder Bräuchen der verschiedenen menschlichen Gemeinschaften wurzeln. Francis Fukuyama fügt hinzu: „Die Grenzlinie zwischen Anlage und Umwelt ist heutzutage stark umstritten, doch kaum jemand würde leugnen, dass diese beiden gegensätzlichen Pole existieren.“ Zum Glück braucht diese Grenze nicht exakt gezogen zu werden, wenn man eine Theorie entwickeln will, die nützliche Einsichten in die menschliche Motivation liefert. Frühneuzeitliche Denker wie Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jaques Rousseau grübelten intensiv über den „Naturzustand“, eine Urzeit vor dem Aufkommen der menschlichen Gesellschaft. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

Die Erörterungen der menschlichen Kultur reichen bis zu Platons „Staat“ zurück

Der Naturzustand ist jedoch bloß eine Metapher für die menschliche Natur, das heißt für die grundlegenden Merkmale, die unabhängig von spezifischen Gesellschaften oder Kulturen existieren. In der westlichen philosophischen Tradition reichen solche Erörterungen der menschlichen Kultur weit zurück, mindestens bis zu Platons „Staat“. Der „Staat“ ist ein Dialog zwischen dem Philosophen Sokrates und zwei jungen Athener Aristokraten, Adeimantos und seinem Bruder Glaukon, über das Wesen einer gerechten Stadt.

Nachdem Sokrates mehrere Theorien der Gerechtigkeit widerlegt hat, beispielsweise die Behauptung von Thrasymachos, dass Gerechtigkeit nichts anderes sei als das Eigeninteresse der Starken, konstruiert er eine gerechte Stadt „in der Rede“, indem er die Natur der Seele erforscht. Das Wort „Seele“ wird nicht mehr allzu häufig verwendet, doch wie etymologisch unschwer zu erkennen ist, befasst sich die Fachdisziplin der Psychologie im Wesentlichen mit ebendiesem Thema. Die entscheidende Diskussion findet laut Francis Fukuyama im Vierten Buch statt.

Der vernünftige Teil der Seele ist dem unvernünftigen überlegen

Sokrates merkt an, dass ein begehrender Teil der Seele nach Speisen und Getränken trachtet. Manchmal verzichten Dürstende jedoch darauf zu trinken, weil das Wasser verschmutzt sei und Krankheiten verursachen könnte. Sokrates fragt: „Wie soll man sich das erklären?“ […] Doch wohl so, dass in ihrer Seele etwas ist, dass ihnen zu trinken befiehlt, und etwas anderes, das es ihnen verbietet, und Letzteres ist anders und stärker als das Befehlende.

Adeimantos und Sokrates einigen sich darauf, dass dieser zweite Teil der Seele der überlegene oder vernünftige sei, der mit dem unvernünftigen, begehrenden Teil in Konflikt geraten könne. Francis Fukuyama erklärt: „An dieser Stelle beschreiben Sokrates und Adeimantos das moderne Wirtschaftsmodell: Der begehrende Teil entspricht den individuellen Präferenzen und der überlegene Teil dem rationalen Maximierer.“ Sigmund Freud mag nicht mehr so ernst genommen werden wie ehemals, aber diese Unterscheidung ist annähernd vergleichbar mit seinen Begriffen des begehrenden „Es“ und des „Ich“, das die Wünsche des Ersteren hauptsächlich infolge gesellschaftlichen Drucks unter Kontrolle hält. Quelle: „Identität“ von Francis Fukuyama

Von Hans Klumbies

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